Totalüberwachung, ja bitte! Wer sich in diesen gefährlichen Zeiten seines Lebens sicher sein will, muss bei ein paar verstaubten Bürgerrechten ein Auge zudrücken.
Ein Plädoyer von Rainer Sigl.
Man muss es mal ganz deutlich sagen: Wir leben in gefährlichen Zeiten. Und das Schlimmste: Das Böse droht nicht mehr nur außerhalb oder an den Rändern unserer Gesellschaft, an den wacker bewachten Außengrenzen unserer rechtschaffen wohlhabenden westlichen Welt, sondern direkt in unserer Mitte, es lauert unter uns, hinter der Maske des harmlosen Durchschnittsbürgers – und wir Ahnungslosen wissen von nichts!
Darum helfe ich ab sofort mit. Ich habe ich nicht nur sorgfältige Dossiers über alle meine Freunde, Mitarbeiter und Nachbarn angelegt, sondern mich auch als Erster bei sämtlichen Überwachungsprogrammen freiwillig gemeldet, um mit vollem Einsatz als vorbildlicher Bürger an der Absicherung unserer Gesellschaft mitzuhelfen.
Ich mein, bei Facebook war ich sowieso schon, insofern war ein großer Schritt zur lückenlosen Dokumentation meiner Unschuld schon gesetzt. Aber ich muss Ihnen schon sagen, dass es durchaus was bringt, sich zusätzlich auch noch per Twitter alle zehn, 15 Minuten öffentlich zu melden und etwa per Fotobeweis seinen Standort, seine Tätigkeit oder sein Mittagessen lückenlos zu dokumentieren. Gut, die Foto-Updates aus der Toilette mögen vielleicht nicht das Gustiöseste der Welt sein, aber bitte: Dem Wachsamen ist nichts Menschliches fremd!
Obwohl, wenn ich ehrlich bin, manchmal werde ich dann schon mir selber gegenüber etwas misstrauisch. Also, ich als verantwortungsbewusster Überwachungsbeamter würde da vielleicht sogar etwas stutzig werden bei so viel Enthusiasmus, wie ich ihn an den Tag lege. Im Vertrauen gesagt: Mich selbst beschleicht oft ein dumpfer Verdacht, ob ich nicht vielleicht doch etwas zu verbergen habe. Hin und wieder, in schlaflosen Nächten, grüble ich, ob ich nicht doch möglicherweise, ohne es zu wissen, ein gehirngewaschener Schläfer sein könnte, der nur darauf wartet, per Hypnose-Codewort … Aber was soll’s. Auch wenn dieser dunkel nagende Selbstzweifel sich als wahr herausstellen sollte: Es herrschen die besten Voraussetzungen, mich rechtzeitig zu finden. Ich sag’s Ihnen: Ich hab da vollstes Vertrauen.
Also nicht in mich – in das System. Und ich muss sagen: Ich fühl mich schon viel sicherer.