Beim Thema Nachhaltigkeit stellt sich oft die Frage, für wen machen wir das überhaupt? Im vierten Teil der REPORT-Serie geht es um die Anspruchsgruppen, auch Interessensträger oder Stakeholder genannt. Erfahren Sie, wie Nachhaltigkeit positiv zur Interaktion beiträgt.
Die Definition
Der europäische Nachhaltigkeitsberichtstandard ESRS (ESRS 1, Punkt 22, Link) definiert die Interessensträger als „Personen oder Gruppen, die das Unternehmen beeinflussen oder von ihm beeinflusst werden." Die Stakeholder sind im ESRS in zwei Gruppen eingeteilt:
1. Diejenigen, deren Interessen – sowohl positiv als auch negativ – von den Tätigkeiten des Unternehmens entlang der gesamten Wertschöpfungskette direkt oder indirekt betroffen sind oder sein könnten.
2. Die Nutzer*innen der Nachhaltigkeitserklärungen. Hier sind zuerst die Hauptnutzer*innen der Finanzberichterstattung (z.B. Banken und Investor*innen) genannt und im zweiten Schritt auch NGOs oder öffentlich Institutionen.
Ich finde zum Verständnis der Stakeholder auch Teil der ISO 26000 hilfreich. In dieser Norm („Leitfaden für gesellschaftliche Verantwortung") heißt es beispielsweise: „Eine Anspruchsgruppe ist eine Einzelperson oder Gruppe, die Interesse an einer Entscheidung oder Aktivität einer Organisation hat. Da diese Interessen durch die Organisation beeinflusst werden, entsteht eine Beziehung. Diese Interessen müssen nicht finanziell oder vertraglich sein. Es kann auch bedeuten „gehört" zu werden."
Schritt für Schritt durch den Prozess
In Teil 3 dieser Serie (Link) haben wir uns schon den Prozessen gewidmet. Die Interessensgruppen können sich überall entlang der Wertschöpfungskette befinden. Es ist daher wichtig, nicht nur innerhalb der eigenen Bilanzgrenzen nach ihnen zu suchen.
Der Blick in die vorgelagerte Prozesskette ist vor allem bei produzierenden Unternehmen essentiell. Wo kommen die Materialien her? Kennt man alle Zulieferunternehmen oder ist die Lieferkette und damit die Verantwortung verschleiert? Kann man sicher sein, dass keine Menschen oder die Umwelt bei der Herstellung zu Schaden kommen? In der nachgelagerten Wertschöpfungskette geht es besonders darum, wie die Produkte genutzt und die end-of-life Behandlung erfolgt.
Welche Anspruchsgruppen gibt es und was wollen diese?
Der ESRS (ESRS 1, AR 6) nennt u.a. folgende Interessensgruppen explizit: Beschäftigte und andere Arbeitskräfte, Lieferanten, Verbraucher, Kunden, Endnutzer, lokale Gemeinschaften und schutzbedürftige Gruppen, Behörden. Auch kann die Natur als „stiller Interessensträger" (ESRS 1, AR 7) betrachtet werden.
Erstellen Sie eine Übersicht um mehr Klarheit zu erlangen. Die ISO 26000 gibt gute Fragestellungen vor um die Stakeholder, ihre Ansprüche, Ziele und Perspektiven besser zu erfassen:
- Wem gegenüber hat die Organisation gesetzliche Verpflichtungen?
- Wer könnte von den Entscheidungen oder Aktivitäten der Organisation positiv oder negativ betroffen sein?
- Wer wird voraussichtlich Bedenken zu Entscheidungen und Aktivitäten der Organisation äußern?
- Wer war in der Vergangenheit daran beteiligt, als mit ähnlichen Fragen umgegangen wurde?
- Wer kann der Organisation dabei helfen bestimmte Auswirkungen festzustellen?
- Wer kann die Fähigkeit der Organisation beeinflussen, ihren Verantwortlichkeiten nachzukommen?
- Wer wäre durch eine Nichteinbeziehung benachteiligt?
Zudem sollten Anspruchsgruppen berücksichtigt werden, die sich nicht äußern. Die Gruppen müssen auch nicht organisiert sein, beispielsweise bei zukünftigen Generationen ist das der Fall. Da diese oft ignoriert oder übersehen werden, kommt NGOs eine wichtige Rolle beim Schutz nachhaltiger Interessen zu.
Klassifikation der relevanten Anspruchsgruppen
Nicht alle Anspruchsgruppen sind gleich relevant, daher ist eine Einteilung und Priorisierung hilfreich. Bei der Stakeholderanalyse gibt es unterschiedlichste Ansätze zur Einteilung:
Intern-Extern: Wer ist direkt mit dem Unternehmen verbunden bzw. nicht?
Aktiv-Passiv: Wer trägt aktiv zum Unternehmensablauf bei bzw. nicht?
Primär-Sekundär: Ohne primäre Interessensgruppe kann der Unternehmensbetrieb nicht durchgeführt werden. Darunter würden beispielsweise Mitarbeitende oder kritische Lieferanten fallen.
Die ISO 26000 schlägt folgende Fragestellungen vor:
- Sind die Beziehungen zwischen der Organisation und der Anspruchsgruppe unmittelbar oder wichtig?
- Sind die Interessen der Anspruchsgruppe für die nachhaltige Entwicklung relevant?
- Haben die Anspruchsgruppen die notwendigen Informationen um die Entscheidung zu treffen?
Wichtig ist in jedem Fall, die Vorgehensweise und die Annahmen zu dokumentieren um sie zu einem späteren Zeitpunkt nachvollziehen oder wiederholen zu können.
Welche Interessen haben die Stakeholder?
Wenn die Anspruchsgruppen bekannt sind, geht es darum ihre Interessen zu bewerten. Ob ein Interesse relevant oder wesentlich ist, kann dann am besten durch seinen Bezug zur nachhaltigen Entwicklung geprüft werden. Darunter versteht man die verschiedenen ESG-Kernthemen, um die es in einem der nächsten Teile der Serie im Detail gehen wird. Der ESRS listet u.a. folgende Themenfelder auf:
E (Environment) = Umweltthemen (Klimawandel, Energie, Verschmutzung von Boden oder Luft, bedenkliche Stoffe, Abfall, Wasser etc.)
S (Social) = Menschenrechte, Arbeitsbedingungen, Gesundheit, Bildung, Schutz und Rechte für lokale Gemeinschaften und Kunden
G (Governance) = Organisationsführung, politisches Engagement, Anti-Korruption und Prävention von Bestechung
Interessen können auch konkurrieren bzw. auch gleichzeitig auftreten. Nehmen wir an, ein Unternehmen möchte in einer Gemeinde eine Fabrik errichten. Dann gibt es seitens der Gemeinde das positive Interesse an Beschäftigung, aber gleichzeitig auch negative Auswirkungen durch Verkehr oder Luftverschmutzung.
Was sind die wesentlichen Themen?
In früheren Berichterstattungen ging es vor allem um die finanzielle Wesentlichkeit (Financial Materiality auch Outside-In Perspektive genannt). Also welche Aspekte beeinträchtigen das Unternehmen?
Der ESRS stellt der finanziellen Wesentlichkeit auch die Auswirkungen durch das Unternehmen gegenüber. Hier spricht man von der Inside-Out Perspektive bzw. der Impact Materiality.
Beide Sichtweisen haben Berührungspunkte zu den Interessensgruppen. Wie eine Wesentlichkeitsanalyse genau erfolgt, erfahren Sie in einem der nächsten Teile dieser Report-Serie.
Austausch mit den Interessensgruppen
Der ESRS gibt keine verpflichtende Einbindung der Anspruchsgruppen in den Prozess der Wesentlichkeitsanalyse vor. Dennoch sind in der Berichterstattung die vorhandenen Stakeholder-Aktivitäten aufzulisten, was einen gewissen Druck erzeugt, sich mit den Anspruchsgruppen und der Interaktion auseinander zu setzen. Mehr zu den Anforderungen finden Sie im ESRS (ESRS 2 - AR 20 bzw. SBM-2, Link).
Wenn man etwa an die Belegschaft als wichtige Stakeholder denkt, sind regelmäßige Info- und Austauschformate ein Must-Have. Der Austausch mit anderen Interessensgruppen kann in verschiedensten Weisen erfolgen. Von Workshops zu speziellen Fragen über Informationsveranstaltungen oder -schreiben bis hin zu Online- oder Vor-Ort-Befragungen.
Die Formate können regelmäßig organisiert oder als Reaktion auf bestimmte Themen entstehen. Auch informelle Austauschrunden sind hier zu nennen, denn niederschwelliger Kontakt ist oft für KMUs zielführend. Zumindest sollten unterschiedliche Kontaktmöglichkeiten angeboten werden.
Was bringt die Einbindung von Stakeholdern?
Die Praxis zeigt, dass die Unternehmen, die sich über die Wirkungen ihrer Entscheidungen und Aktivitäten auf die Interessen und Bedürfnisse ihrer Anspruchsgruppen bewusst sind, ausgewogenere Entscheidungen treffen.
Auch kann man damit feststellen, ob der Austausch als glaubwürdig wahrgenommen wird. Die Formate können dazu dienen Verständnis zu erzielen oder sogar Probleme zu lösen bzw. vorzubeugen. Zudem ergibt sich die Möglichkeit neue Partnerschaften zu etablieren.
Das Feedback sollte angenommen und bestmöglich umgesetzt werden. Und wenn die Umsetzung nicht möglich ist, ist eine Rückmeldung essentiell. Mir ist eine Unterhaltung mit einem Zulieferunternehmen in Erinnerung geblieben. Der Zulieferer hat drei Jahre in Folge an Stakeholder-Dialogen teilgenommen und jedes Mal konkrete Verbesserungsvorschläge eingebracht – immer ohne Erfolg oder Rückmeldung. Das frustrierte und im vierten Jahr nahm das Unternehmen nicht mehr teil.
Erfolgreiche Einbindung der Stakeholder ist Arbeit, diese bringt aber neue Impulse und Perspektiven. In Zeiten volatiler Märkte, des Fachkräftemangels und erhöhter Risiken ist die Zeit und der Aufwand gut investiert.
Zusammenfassung:
- Wer sind unsere Interessengruppen entlang der Prozesskette hinsichtlich ESG?
- Welche Ziele, Perspektiven, Erwartungen haben diese Gruppen?
- Was sind unsere Ziele, Perspektiven, Erwartungen an die Gruppen?
- Wer sind die wichtigsten Stakeholder?
- Wie kommunizieren wir mit den Interessensgruppen?
Im fünften Teil dieser REPORT Serie erfahren Sie, wie die Risiken und Chancen für die Wesentlichkeitsanalyse laut europäischem Nachhaltigkeitsberichtstandard ESRS bewertet werden. Keine Sorge, es muss nicht alles gleichzeitig gemacht werden. Nachhaltigkeit ist eine Reise und die gelingt Schritt für Schritt.#
Hier geht es zu Teil 1 und Teil 2 und Teil 3 und Teil 4 der Serie.
Bild: iStock/VectorMine