Freitag, Jänner 10, 2025

Wer braucht all den Luxus, wozu all der Ballast?  – Jetzt ist genau die richtige Zeit, sich von vielem zu verabschieden. Ein Plädoyer von Rainer Sigl.

 

Grüß Sie! So eine Überraschung, so ein Zufall, dass wir uns hier treffen! Jaja, mir geht’s gut, blendend, kann nicht klagen! Wie bitte? Ach nein, haha, nett, dass Sie fragen, aber ja, wirklich, mir geht’s hervorragend. Momentan, so im ersten Moment, war das natürlich schon ein Schock, aber Sie wissen ja eh, die Wirtschaft, die allgemeine Lage, die Krise, der Bankrott, dann die Gerichtsverhandlungen – da muss man halt flexibel bleiben! Und nach einer ersten Umorientierungsphase geht’s jetzt wirklich wieder sehr gut, mehr noch: besser als vorher!

Einen großen Vorteil hatte die ganze Sache, denn ich bin echt draufgekommen, dass man so viel ja gar nicht braucht! Ich war ja so was von blind vorher! Die drei Autos, das Haus, die Mitgliedschaft im Golfclub, die Anzüge … Man belastet sich die ganze Zeit mit Gegenständen, die man angeblich haben muss, mit Luxusgütern, die man angeblich braucht, mit Zeug, das man heim in seine überteuerte Luxushütte schleppt und dann hegen und pflegen muss … Gut, dass das alles hinter mir liegt! Ich sag Ihnen, jetzt, wo mein Leben sozusagen gesundgeschrumpft ist, geht’s mir wirklich besser!

Im Rückblick kann ich mir mein früheres Elend ja gar nicht mehr vorstellen! Ich mein, das war schon ätzend langweilig, und stressig zugleich, dieser eine einzige Job, immer mit denselben Leuten, fünfzig, sechzig, siebzig Stunden die Woche … da lob ich mir meine jetzige Freiheit, nicht, immer unterwegs, immer neue Gesichter, jeder Tag ein Abenteuer, mal hier vor dem Supermarkt, mal dort vor der Ubahn … Und erst bei Schneefall: Herrlich! Ich sag Ihnen, als Lohnsklave kriegt man ja die majestätische Schönheit der Jahreszeiten nie mit, aber jetzt: Frühmorgens ausrücken, die Stadt schläft, nur du und deine Kollegen unterwegs, gerade, ehrliche Männer, wenige Worte, die klare Luft, die verschneiten Straßenbahngleise, die gesunde Bewegung, der ehrliche Schweiß vom Schneeschaufeln, die wohlige Wärme des Rums zum Frühstück …

Und erst der Sommer! Ich sag Ihnen, als ich noch im Firmenhamsterrad laufen musste, ging das Leben an mir vorüber! Wann haben Sie etwa das letzte Mal die Natur so richtig wahrgenommen? Dachte ich mir! Ist es etwa nicht das Größte, unter Gottes freiem Himmel zu liegen und aufzuschauen zu dieser ehrfurchtgebietenden Unendlichkeit der Sterne? Oder das Wunder des Frühlingsbeginns! Mit Andacht wahrzunehmen, wie sich die Natur unter den ersten zarten Sonnenstrahlen aus ihrem Winterschlaf erhebt! Das zarte Knospen der Blüten mitanzusehen! Die lieblichen Rufe der Zugvögel bei ihrer Heimkehr wirklich zu hören! Früher hab ich geglaubt, dafür brauch ich mindestens eine Dachterrassenwohnung, besser noch: ein Haus im Grünen mit Garten, ein Ferienhaus in Italien, ein Cabrio und einen mindestens zweiwöchigen Urlaub auf Mauritius, für den ich seit Jahren sowieso keine Zeit hatte – Mann, war ich ein Idiot! Wenn ich jetzt im Frühling abends so auf der Donauinsel liege, bedeckt von Wirtschaftszeitungen, die ich endlich, endlich nicht mehr lesen muss, unter mir der atmende Planet, über mir die Unendlichkeit des Kosmos, dann fehlt es mir an nichts! Und ich Dödel hab jahrzehntelang geglaubt, diesen Luxus könnte ich mir vor lauter Stress nicht leisten!
Gut, das mit dem Schneidezahn hat mich schon kurzfristig etwas deprimiert. Und dass die Irmi inzwischen ausgerechnet diesen Trottel von Gerichtsvollzieher geheiratet hat. Und gut, ja, dieser mieselsüchtige Hubert – der war früher irgendwo bei einer Bank im Vorstand, behauptet er zumindest –, dass der jetzt glaubt, er hat den Platz vor dem Billa im neunten gepachtet, also, das zipft mich schon an, weil bitte: Ich hab da schon die Zeitung verkauft, da war der Idiot noch irgendwo angstbleich im Anzug in Krisensitzungen unterwegs, bittesehr!

Aber wissen Sie was: Das alles ist mir eigentlich auch wurscht – davon lass ich mir das Leben nicht versauen! Alsdann, schön, dass wir uns getroffen haben! Wollen S’ vielleicht nicht doch eine Zeitung …? Oder eine kleine Spende …? Hallo …? Das ist wieder mal typisch bei diesen Systemsklaven: immer im Stress. Bin ich froh, dass ich das hinter mir habe!

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