Trotz des zunehmenden Fokus auf die Nutzererfahrung gibt es immer noch Produkte und Services, die nicht auf die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet sind. Wie können das passende Design und die richtigen Prozesse die Kundenzufriedenheit und damit auch die Akzeptanz und Nutzung von Services verbessern?
Bei einem Podiumsgespräch Ende November im Future Camp in Wien diskutierten Expert*innen die Herausforderungen rund um digitalen Humanismus und Technik.
Die Gesprächsrunde:
Christiane Noll, Country Managerin Avanade
Verena Seibert-Giller, UX Psychologist & Human Behavior Specialist, UX Psychology
Tom Strube, Managing Consultant adesso Austria
Werner Rosenberger, Projektleitung WACA, Barrierefreiheitsexperte, Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs
Martin Szelgrad, Redaktion Report Verlag
Video mit Statements zum Thema: www.youtube.com/watch?v=PorFFTaWgvY
Fotos der Veranstaltung: www.flickr.com/photos/award2008/sets/72177720313388547/
Wie digitale Services geschaffen werden, hat sich über die Jahre verändert. Wie sieht aus Ihrer Sicht dieser neue Zugang zu Projekten aus?
Christiane Noll: Mit Technologie und Digitalisierung kann die Brache seit vielen Jahren hervorragende Lösungen für unsere Gesellschaft und Wirtschaft bieten. Früher hat man dazu ein Pflichtenheft geschrieben, dann programmiert und umgesetzt, um Abläufe und Systeme effizienter zu gestalten. In den letzten Jahren gibt es mehr Bewusstsein auch für den Menschen im Mittelpunkt. Als IT-Dienstleister sind wir ein Partner für nachhaltige, positive Auswirkungen und Mehrwert im Alltag der Menschen. Eines ist klar: Mit Technologie Neues zu schaffen, muss stets auch im Einklang mit einfacher Bedienbarkeit und größtmöglichen Nutzen geschehen. „People first“ ist mein Motto bei Avanade.
Christiane Noll, Avanade: Neues muss nicht nur bedienbar, sondern auch nützlich sein.
Was verstehen Sie unter Begriffen wie digitaler Humanismus, Usability und User Experience?
Verena Seibert-Giller: Digitaler Humanismus beschreibt die Notwendigkeit, Technologie und Menschen in einer wertschätzenden Art zu verbinden. Technologie ermöglicht sehr viel in unterschiedlichsten Lebensbereichen. Ein Beispiel ist die Teilhabe an Demokratie, die mit Digitalisierung unterstützt und sogar verbessert werden kann. Im schlechtesten Fall aber können dadurch Menschen von demokratischen Prozessen ausgeschlossen werden. Gleiches gilt für Werkzeuge für die Arbeitswelt oder für Anwendungen in der Medizin. Wir alle haben die Verantwortung der Gestaltung von Technologie, die Menschen hilft, unseren Werten gerecht wird und unserer Gesellschaft zugutekommt – und nicht nur einzelnen Konzernen oder Machthabern.
Wir haben bereits in neunziger Jahren den Begriff „Usability“ verwendet, um etwa Videorecorder oder Bankomaten so zu bauen, dass Benutzer*innen tatsächlich die Aufgaben effizient bewältigen können, die sie mit diesen Systemen lösen möchten. Mit einem weiteren Schritt in der Branche zur „User Experience“ wurde dann auf die ganzheitliche Erfahrung aus Sicht der Nutzer*innen mit Services und Produkten fokussiert. Diese ist dann zum Beispiel in der Schwerindustrie oder Flugsicherung auch ein Faktor für Arbeitssicherheit. Beim Design von Produkten geht es dann nicht um die Kosmetik der Gestaltung von Oberflächen, sondern vielleicht um eine Reduktion aufs Wesentliche in der Bedienung von Maschinen, um Unfälle zu vermeiden.
Verena Seibert-Giller, UX Psychology: Technologie muss auch in Stresssituationen gut zugänglich sein.
Warum kann ein gutes Produktdesign gerade auch in Stress-Situationen helfen?
Verena Seibert-Giller: Wir unterschätzen oft, wie anders der Mensch unter Stress agiert. Man ist fehleranfälliger, weniger kreativ in der Problemlösung und prinzipiell in seinen Möglichkeiten stark eingeschränkt. Es muss auch nicht immer eine lebensbedrohliche Situation bedeuten, Stress kann auch durch eine zu knappe Zeit für Arbeitsaufgaben bedeuten. Auch mit einem Produkt zu tun zu haben, mit dem ich nicht umgehen kann, stresst mich. Menschen geraten durch unterschiedliche Einflussfaktoren unter Stress – dem sollte man gerade auch am Arbeitsplatz mit einer Umgebung entgegenwirken, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Niemand will in Watte gepackt werden, aber wir alle wünschen uns einen respektvollen Umgang miteinander und eine Arbeitswelt, in der Veränderungen gut kommuniziert werden.
In den erschütternden Flugzeugabstürzen von Boeing MAX-Maschinen von rund fünf Jahren hatte man nachträglich in den Blackbox-Aufnahmen das Blättern und verzweifelte Suchen von Lösungshinweisen im Handbuch durch die Piloten hören können. Einige Tage davor aber gab es bereits den gleichen technischen Vorfall in einer anderen Maschine, der gelöst worden war. Für mich geht es hier auch nicht vorrangig darum, ob Informationen auf Papier oder digitalen Displays verfügbar sind. Wir brauchen Technik, die auch unter Stress noch sicher und effizient bedient werden kann.
Ist ein besonders nutzerfreundliches Design von Services und Anwendungen in der Entwicklung von Produkten auch teurer? Wie sieht es dazu mit den Ressourcen in den Unternehmen aus?
Tom Strube: Mein Schwerpunkt bei adesso Austria ist die Schaffung von digitalen Erlebnissen, under anderem mittels Webseiten, Abschlussstrecken und Online-Shops. Und dazu braucht es gute Standardprodukte und individuelle Serviceleistungen. Denn die Digitalisierung der Prozesse in der Wirtschaft, aber auch in der Verwaltung müssen vorangetrieben werden.
Eine Software soll tatsächlich von vielen Usern genutzt werden und damit Wirksamkeit erzielen. Um diese Akzeptanz zu erreichen, muss man Geld in die Hand nehmen und entsprechend in die User Experience und das „User Interface Design“ investieren. Das bedeutet idealerweise, mit den künftigen Nutzer*innen zu erarbeiten, welchen Bedarf, welche Anforderungen und welche Wünsche sie haben, damit einzelne Abläufe effizienter und effektiver vonstattengehen. Oft nehmen wir auch Studien zur Hand, die aktuelle Kenntnisse über die Zielgruppe enthalten. Nach der Bedarfserhebung wird ein individuelles Konzept, das kontinuierlich mit dem Entwicklungsteam diskutiert wird, realisiert. Auch hierfür muss ein Budget vorgesehen werden.
Tom Strube, adesso: Wenn es wirken soll, muss es gründlich gemacht sein.
Aber am Ende des Tages kann man von einem Erfolg sprechen, wenn durch diese Maßnahmen höhere Abschlussraten, eine größere Zufriedenheit und sicherlich auch weniger Fehler und daraus nachgelagerte Kosten entstehen. Auch beim Betrieb von Services der öffentlichen Hand können so Geld und Ressourcen gespart werden. In der Regel gibt es einen höheren sogenannten „Return on Investment“ durch ein nutzerfreundliches Design.
Warum ist der digitale Humanismus gerade auch für eine digitale Barrierefreiheit wichtig?
Werner Rosenberger: Es bedeutet für mich, bei einem Serviceangebot und in unserer Gesellschaft keine Menschen auszulassen, Jede*n einzubeziehen. Der Ansatz des „Ease of use“ ist gleichzusetzen mit dem Begriff barrierefrei. Es bedeutet, dass digitale Lösungen, Produkte und Dienstleistungen von jedem wahrgenommen werden können – von Menschen mit oder ohne Einschränkungen, egal ob jung oder alt, technikaffin oder weniger technikaffin.
Die Initiative WACA bietet ein Zertifikat für digitale Barrierefreiheit. Warum setzen Unternehmen darauf?
Werner Rosenberger: Mit dem „Web Accessibility Certificate“ zertifizieren wir in Österreich seit fünf Jahren gemeinsam mit dem TÜV nach internationalen Richtlinien Webseiten, Onlineservices und zukünftig auch native Apps und andere Softwarelösungen, die öffentlich zugänglich sind. Wir prüfen in Audits anhand von Stichproben, geben auch Ratschläge für Verbesserungsmaßnahmen und stufen erfolgreiche Webangebote dann in Gold, Silber und Bronze ein. Unternehmen können mit diesem Qualitätssiegel ihr Engagement in einer nutzerfreundlichen Gestaltung ihrer digitalen Services zeigen. Gleichzeitig reduziert es nachweislich Barrieren und dadurch auch die Kosten aufgrund von möglichen Beschwerden aus den Zielgruppen. Auch die erste wirklich technologieaffine Generation, die mit Computer und Handy groß geworden ist, kommt jetzt in ein Alter, in dem man Brillen braucht. Sind Anwendungen durch bessere Schriftgrößen, Farbkontraste und ein übersichtliches Informationsangebot besser zugänglich, tun sich alle leichter.
Werner Rosenberger, Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs: Digitale Lösungen brauchen Zugänglichkeit für alle.
Worauf ist generell bei der Entwicklung von Produkten und Services – und auch ihrer Einführung und Umsetzung zu achten?
Christiane Noll: Elementar ist die Arbeit im Team, insbesondere auch beim Erlernen von neuen Tools oder Technologien. Ein menschliches Managen von Veränderungen und Projekten muss immer vor der technischen Ebene kommen. Oft ist der Bereich „Change“ aber der erste Punkt, der eingespart wird. Neue Werkzeuge wie Microsoft Copilot – eine Revolution auf Basis von künstlicher Intelligenz – werden das Thema des digitalen Humanismus nur verstärken, indem der Mensch in vielen Bereichen unterstützt wird. Um ein Beispiel zu nennen: Mit der Möglichkeit der automatisierten Transkription der Gespräche mit Microsoft Teams, verändert sich auch die Meeting-Kultur in Organisationen. Wir testen das gerade: Meetinggespräche werden präziser, die Teilnehmer*innen sind fokussierter, es wird mitunter klarer argumentiert. Schließlich schlägt die KI am Ende gleich auch eine To-do-Liste vor.
Unsere Arbeitsweisen werden sich stets Hand in Hand mit Technologieentwicklungen verändern. Doch jedes Technologieprojekt sollte mit einem entsprechendem „Change Management“ begleitet werden, mit dem Veränderungen und Ziele allen betroffenen Mitarbeiter*innen erklärt werden. Und damit ist nicht gemeint, einmal pro Woche einen Newsletter auszuschicken.
Wo sehen Sie ein nutzerzentriertes Design von Produkten besonders gut umgesetzt? Was sind auch Negativbeispiele?
Verena Seibert-Giller: Jeder kennt die Produkte von Apple, die einfach gut gemacht sind. Auch Seniorenhandys verschiedener Hersteller gehen perfekt auf die Bedürfnisse ihrer Zielgruppe ein. Als Negativbeispiel dagegen gibt es gerade Tendenzen im militärischen Bereich, wo viele Touch-Displays wieder eingestampft werden. Denn gerade in Krisensituationen ist auch die Haptik in der Bedienung von Technik wichtig – es muss auch funktionieren, ohne hinzuschauen. Ähnlich ist es in der Autoindustrie, wenn großflächige Touchscreens in der Konsolenmitte die Verkehrssicherheit gefährden – jedenfalls in einer Übergangszeit, in der Fahrzeuge noch nicht autonom fahren. Immer wieder haben wir es bei Produkten mit technischen Spielereien zu tun, die sicherlich aus Marketingsicht gut wirken, aber der Benutzbarkeit entgegenwirken.
Tom Strube: Die Donau Versicherung, um ein Beispiel zu nennen, hat mit einem aktuellen Haushaltsversicherungsangebot das Thema der Benutzerführung besonders gut umgesetzt. Es ist ein einfaches Produkt, das in einem übersichtlichen, schlanken Prozess auch einfach abzuschließen ist. Ein ganz anderes Produkt, von dem ich persönlich sehr überzeugt bin, sind Smart-Home-Komponenten von Herstellern wie Homematic. Vernetzte Gebäude bieten ein Themenfeld, das auch beliebig komplex gestaltet werden kann. Bei Homematic gibt es einen QR-Code auf jedem Produkt. Die Software richtet die Komponenten grundsätzlich selbst ein, die Nutzer*in muss dazu nichts mehr beitragen – die Komponenten funktionieren auch nach den Updates und sind sicher. Mit intuitiver Bedienung, vielfältigen Funktionen und allerhöchsten Sicherheitsstandards ist das eine ideale Lösung für aktuelle Smart Homes und es erfüllt viele Bedürfnisse bezüglich Heimautomatisierung. So etwas erwarte ich mir heute eigentlich von allen digitalen Produkten.
Gibt es einfache Ratschläge für gutes Produktdesign? Was ist allgemein zu beachten?
Tom Strube: Das Konzept und der Aufbau der Serviceoberfläche sollten dem Grundsatz folgen, dass die Nutzer*innen immer geführt und nie allein gelassen werden – sie wissen beispielsweise immer, wo sie klicken sollten. Verwirre deine User nicht mit fünf Optionen, wenn ohnehin klar ist, welche Auswahl gewünscht ist. Das ist bei Services für Konsument*innen leichter als bei Fachanwendungen wie etwa SAP. Business Software kann komplizierter sein, denn sie hat User, die genau wissen, wie sie mit dem Werkzeug umgehen müssen. Wenn sich dagegen ein User nur ein paar Sekunden mit einem Serviceprozess beschäftigen will, muss es ebenfalls möglich sein, alle Prozesse rasch erledigen zu können. So sollte zum Beispiel der Action-Button stets im Sichtbereich des Users sein. Einzelne Schritte, die gesetzt werden müssen, sollen klar erkennbar sein, und im Behördenbereich ist ein Hinweis auf benötigte weitere Unterlagen zu Beginn – und nicht am Ende – einer Antragstellung sinnvoll.
Wenn es ein Basisrezept für gutes Servicedesign gibt: informieren, die Nutzer*innen abholen, auf den folgenden Prozess vorbereiten und diesen dann intuitiv durchziehen. Wenn man das berücksichtigt, hat man schon 90 Prozent geschafft. Ein letzter Punkt ist vielleicht noch der Fokus auf das eigentliche Ziel. Wenn ich eine Haushaltsversicherung abschließen möchte, dann sollte es nur um dieses Produkt gehen, und nicht darum weitere fünf Newsletter oder das sechste komplementäre Produkt zu verkaufen. Führen Sie ihre Kund*innen erst einmal zum Ziel – dann kann man immer noch nachhaken.
Menschen mit Behinderungen benötigen assistive Technologien. Ist die Verfügbarkeit von nutzerfreundlicher Technologie aber besonders in diesem Bereich eine Frage des Geldes?
Werner Rosenberger: Die Digitalisierung und generell technische Lösungen erleichtern den Alltag der Menschen in allen Belangen. Viele Entwicklungen sind eigentlich zuerst Menschen mit Behinderungen zugutegekommen. So wurde die Schreibmaschine für eine blinden Person erfunden, und hat in den Jahren danach einen Riesenmarkt geschaffen. Auch digitale Helferleins wie Assistenten mit Sprachausgabe sind für Menschen, die blind sind, entwickelt worden. Auch Sprache kann zu einer großen Barriere werden, die bereits von KI-basierten Übersetzungstools massiv gesenkt wird. Das betrifft etwa auch die automatische Übertragung eines Textes in einfache Sprache.
Wichtig ist natürlich, dass diese Produkte erschwinglich bleiben. Bei neuen Technologien mit einem noch geringen Absatz ist die Kostenfrage für die Nutzer*innen aber enorm. In einem Projekt der Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen setzen wir uns für eine leistbare Braille-Zeile oder einen Braille-Ring für Menschen in Entwicklungsländern ein – für jene, die sich keine Braille-Zeile um zwei bis dreitausend Euro kaufen können. Auch das ist digitaler Humanismus für mich: Hilfssoftware erschwinglich zu machen, damit kein Mensch ausgeschlossen wird.