Samstag, Dezember 21, 2024
Der Blick in die Glaskugel
Die Szenarien für 2024: Chance auf Vorreiterrolle, digitales Geld und Selbsthilfe statt Staat. (Fotocredit: iStock)

Selten zuvor war der Blick in die Zukunft so spannend wie heute. 2023 war geprägt von Kriegen, Zinssteigerungen und einer beispiellosen Inflation. Report(+) hat fünf renommierte Zukunftsforscher um ihre Einschätzung gebeten, welche die wahrscheinlichsten Szenarien für 2024 sind.


1. Schnelles Handeln über moralische Debatten hinaus
Autor: Harry Gatterer

Wir haben einen Wendepunkt erreicht: Die »technosozialen Arbeitswelten« prägen nun alle Facetten der Arbeit. Diese Ära, in der Technologie und soziales Miteinander in Organisationen gleichberechtigt integriert werden, beschränkt sich nicht nur auf Low-Skill-Jobs. Sie transformiert die gesamte Arbeitslandschaft. Die »Work Force« besteht nicht mehr ausschließlich aus Menschen, sondern umfasst in direktem Maße auch die Technologie. Dies markiert eine massive Wandlung der New-Work-Bewegung, hin zu einem neuen Verständnis von Arbeit. Hier liegt der Schlüssel zur wahren Begegnung und wertvollen Erfahrungen – der Human Experience. Das Zusammenspiel zwischen Menschen und Maschinen wird schon 2024 zum Schlüsselfaktor für Organisationen.

In einem globalen Kontext beobachten wir eine Verschiebung der Machtverhältnisse, geprägt durch neue, einflussreiche Allianzen. Asien, angeführt von China, gewinnt an enormer Dynamik. In diesem Wandel muss ein zunehmend erschöpftes Europa eine Neuausrichtung finden, insbesondere in Bezug auf Umweltfragen. Die Herausforderung besteht darin, das Mindset zu wandeln und »Eco Propositions« zu priorisieren. Europa hat die Chance, in Sachen Umweltfokussierung eine Vorreiterrolle einzunehmen. Dies erfordert jedoch einen pragmatischen Ansatz und schnelles Handeln, über moralische Debatten hinaus. Auch die Einführung des digitalen Euros steht bevor und wird eine signifikante Transformation der europäischen Wirtschaft bewirken.

Central Bank Digital Currencies (CBDCs) bieten die Möglichkeit, von traditionellen Zahlungssystemen unabhängiger zu werden. Der Wandel im Kernmedium der Wirtschaft – dem Geld – wird weitreichende Auswirkungen haben. Dabei geht es nicht darum, das Bargeld abzuschaffen, sondern um die Erschließung neuer Möglichkeiten durch digitale Währungen. Der digitale Euro wird wohl bis 2025 Realität werden und jedenfalls das Potenzial haben, ein Gamechanger zu sein.

Zusammenfassend: Europa steht vor einem spannenden, wenn auch herausfordernden Zukunftsszenario. Die Integration technologischer Fortschritte in die Arbeitswelt, die Anpassung an globale Machtverschiebungen und die Entwicklung hin zu einer nachhaltigeren Wirtschaft sind zentrale Themen, die unsere Zukunft prägen werden. Es ist an der Zeit, die Zukunft aktiv zu gestalten und nicht mehr als ferne, schwierige Herausforderung zu betrachten. Die Zukunft ist ein Handlungsraum in der Gegenwart. Wenn wir uns umsehen und uns fragen, was wir tun, erkennen wir: Wir gestalten täglich die Zukunft – Schritt für Schritt. 

Der Autor

(Foto: beigestellt)


Harry Gatterer ist Geschäftsführer des Zukunftsinstituts. Er liebt es, gedanklich in die Zukunft zu reisen, Potenziale zu identifizieren, ihre strategischen Impacts zu erkennen und sie zu nutzen.
www.zukunftsinstitut.at


2. Zuversicht trotz Krise
Autor: Horst Opaschowski

In diesen unsicheren Zeiten praktizieren die Bürger empirisch nachweisbar eine eigene Krisenstrategie. Sie entwickeln ein ambivalentes Lebensgefühl zwischen öffentlich bekundeter Unzufriedenheit und persönlichem Optimismus. Sie sind davon überzeugt: »Den meisten geht es persönlich gut« (2023: 69 Prozent). Sie können dabei sehr wohl zwischen allgemeiner gesellschaftlicher Krisenstimmung und persönlichem Wohlergehen unterscheiden.

Insbesondere die Bevölkerung im ländlichen Raum ist trotz Dauerkrise positiv gestimmt. Einem Großteil der Bevölkerung gelingt der Rückzug in sein Umfeld, auch wenn es in Wirtschaft und Gesellschaft kriselt. Eine solche individuelle Krisenstrategie erlaubt gleichermaßen Nähe und Distanz, Rückzug und Flucht. Auf diese Weise lässt sich das Trommelfeuer negativer Nachrichten zum Weltgeschehen besser ertragen. Die Gemütlichkeit stirbt nicht, weil die Wagenburg der eigenen vier Wände zum Schutzschirm wird.

Zudem stoßen Anspruchshaltung und geduldiges Warten auf den Problemlöser Staat an ihre Grenzen. Jetzt ist zunehmend Selbsthilfe gefragt, solange kein Ende der Krisenzeit absehbar ist. Die Menschen wollen sich selbst mehr helfen und nicht einfach alle Probleme dem Staat überlassen. Die guten Vorsätze für 2024 lauten: Maßhalten und Zusammenhalten. Ein Leben im Vorsorgemodus kündigt sich an, weil sich das Immer-Mehr immer weniger leisten können und wollen. Bescheidener leben wird subjektiv als Lebensgewinn und neue Glücksformel empfunden. Die Kontakte zu Freunden und Nachbarn werden aktiviert und intensiviert. Für Egoismus ist immer weniger Platz. Zusammenhalten statt Auseinanderdriften ermöglicht ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl. Dieses Zusammenrücken sorgt dafür, dass die wachsende soziale Kluft zwischen Arm und Reich nicht explosiv wird.

Allerdings warten auf die vermeintliche Erbengeneration weniger Wohlstand und mehr Schulden. Die junge Generation wird die Schuldenlasten als Wohlstandsverlust unmittelbar zu spüren bekommen, solange Eltern und Großeltern heute auf Kosten der Generation von morgen leben. Auf die Jugend wartet der größte Schuldenberg der Nachkriegsgeschichte. Die junge Generation wird eine solche Gesellschaft auf Pump nicht länger widerspruchslos hinnehmen wollen. Ihr berechtigter Vorwurf lautet dann: Wer Schulden macht, macht sich schuldig.

Der Autor

(Foto: beigestellt)


Horst Opaschowski ist Zukunftswissenschaftler und Berater für Wirtschaft und Politik. Seit 2014 ist er Gründer und Leiter des Opaschowski Instituts für Zukunftsforschung (OIZ) in Hamburg. 
www.opaschowski.de


3. Caring Capitalism
Autor: Andreas Reiter

Während mittelfristig die Bedrohung durch den Klimawandel bzw. entsprechende Anpassungsstrategien im Fokus stehen, geht es in nächster Zukunft um eine Neukonfiguration von Wirtschaft und Gesellschaft. Weltweit herrschen toxische Verhältnisse, die uns mit Krisen, kriegerischen Konflikten und überhitzten Stimmungen befeuern. Straßenkleber und Blockaden hier, Wutbürger dort. Die Bruchlinien in unserer Gesellschaft verfestigen sich immer mehr, aber Angst vor Veränderung ist ein schlechter Ratgeber. 

Menschen müssen sich aber immer wieder an neue Rahmenbedingungen anpassen – ob ökonomische, ökologische oder sozio-kulturelle. Die multiplen Krisen der letzten Jahre haben jedoch ein kollektives Anspruchsdenken hervorgebracht. Eine undifferenzierte Alimentierung seitens des Staates (»Gießkannenprinzip«) sollte dramatische Auswirkungen von Corona, Energiekrise etc. abfedern, hat jedoch leider auch die Anspruchshaltung noch weiter zementiert und viele ihrer Selbstwirksamkeit beraubt: »Der Staat wird’s schon richten.« Der Staat kann und soll jedoch vieles nicht richten. Er kann nur die Rahmenbedingungen setzen, die ein gedeihliches Wirtschaften und ein gutes Leben ermöglichen.

Wir sind aktuell im holprigen Übergang zu einem regenerativen Wirtschaftssystem. Die europaweiten Proteste, Blockaden und Arbeitskämpfe belegen das Versagen des alten und die Dringlichkeit eines neuen Wirtschaftsmodells, das sich stärker an sozialer Gerechtigkeit und am Gemeinwohl orientiert. Egal ob top down durch ESG-Kriterien oder durch den Druck der Generation Z – eine radikale Umgestaltung der Wirtschafts- und Arbeitswelt steht bevor.

Wir bewegen uns vom Ego zum Eco System, zu einem Caring Capitalism, der Eigen- und Gemeinwohl ausbalanciert, qualitative Entwicklung vor quantitatives Wachstum stellt und partizipative Wirtschafts-Modelle forciert. Resiliente Systeme schaffen nicht nur einige wenige Gewinner, sondern sorgen für eine möglichst breite Verteilung des Wohlstands, ein Win-win.

Der Autor

(Foto: beigestellt)


Andreas Reiter ist Gründer des ZTB Zukunftsbüros und Referent und Keynote-Speaker bei internationalen Kongressen und Tagungen sowie Lehrbeauftragter für Trend-Management an der Donau-Universität Krems und am MCI in Innsbruck. 
www.ztb-zukunft.com


4. Wer braucht noch Prognosen?
Autor: Klaus Kofler

Kassandra war in der griechischen Mythologie bekannt für ihre Prophezeiungen. Leider hatte Kassandra ein Problem. Sie sprach nämlich Wahrheiten, Warnungen und Bedenken aus, die viele nicht hören wollten. Heute im 21. Jahrhundert könnte man glauben, dass wir nicht nur eine Weissagerin haben, sondern von einer ganzen Kassandra-Schar umgeben sind. Denn eigentlich prophezeit doch schon fast jeder nur noch Krisen oder dystopische Zukunftsszenarien. Aber nur weil sich diese Welt verändert und wir ängstlich in die Zukunft blicken muss sie nicht gleich untergehen. Das war auch nicht Kassandras Ansatz. Genaugenommen versuchte sie nur Zusammenhänge aufzuzeigen und Dinge beim Namen zu nennen, um den Menschen frühzeitig ein gesamthaftes Bild der Zukunft zu vermitteln.

Heute stehen wir vor ähnlichen Rahmenbedingungen. Nur die Geschichte der Zukunft von heute ist die, dass wir uns von ihr extrem unter Druck setzen lassen, anstatt sie klug und mutig hinterfragen zu lernen. Menschen besitzen die wunderbare Gabe, Wesentliches vom Unwesentlichen in Sekundenbruchteilen zu unterscheiden. Leider stellen wir dabei meist nur das Spektakuläre in den Mittelpunkt und folgen deshalb auch lieber jenen Bildern, denen wir auch folgen wollen. Genauso verhält es sich auch, wenn es um Prognosen der Zukunft geht. Ich glaube, dass zu viele »Wahrsager« und »Propheten« ihre Zukunftsbotschaften zu sehr mit dem »Wahrhabenwollen« verwechseln.

Anstatt ängstlich Zukunftsbilder anzustarren, sollten wir sie besser gestalten lernen. Denn gerade in einer Zeit mit der Anlehnung zum Negativismus, braucht es keine spektakuläre Prognosen, sondern grundlegend bessere Zukunftsaussichten als die, die wir kennen. Es reicht nicht mehr aus, nur zu kritisieren, es muss auch etwas getan werden. Denn Zukunft ist und bleibt ein Möglichkeitsraum, den es zu gestalten gilt. Nicht mehr und nicht weniger.

Der Autor

(Foto: beigestellt)


Klaus Kofler sucht als Zukunftsforscher, Redner und Autor nach Perspektiven und Potenzialen für neue intelligente Zukunftsbilder. Er ist Mitbegründer der Future Design Akademie.
www.kofler.at


5. Zukunftsmeinung ist nicht Zukunftsforschung
Autor: Peter Zellmann

Im Vorjahr war die Zukunftsfrage von Report(+) für 2023 allgemeiner formuliert (Zum Artikel: www.report.at) Man konnte als befragter Experte zukunftstauglich philosophieren. Für 2024 wurde doch sehr konkret gefragt: »Was sind aus Ihrer Sicht die wahrscheinlichsten Szenarien für 2024?« Ich wage in vorgegebener Knappheit die konkrete Beantwortung, muss aber festhalten: Mit Zukunftsforschung im wissenschaftlichen Sinn hat das jetzt weniger zu tun.

Migration: Es wird sich wenig ändern. Die EU wird weiter ankündigen, Österreich wird weiter fordern, und die Probleme im Inland werden bleiben. Im Vergleich zu anderen Staaten dominieren zu wenig Integration und Integrationswille, ein weiteres Dahinwurschteln im Bildungswesen ist die Folge.

Politik: Das geht ganz kurz. Die FPÖ wird die Wahl gewinnen, regieren wird sie nicht. Wir werden eine Neuauflage der ehemals großen Koalition (ÖVP, SPÖ) erleben. Offen bleibt: wer wird Zweiter (bzw. stellt den Kanzler) und braucht man für eine Mehrheit im Parlament die NEOS?

Gesundheitswesen: Die »Nachcoronazeit« prägt in diesem Winter weiter das Geschehen. Auch wenn sich bewahrheitet hat, dass es sich um eine unter vielen Virusinfektionen handelt, müssen wir uns aus der Klammer der Virologen erst langsam befreien. Die Ausrede der Krankenhausüberforderung durch Corona fällt allerdings weg. Ärzte-, Pflege- und Bettennotstand werden weit über 2024 hinaus das Bild der Gesundheitspolitik prägen. Der Bereich der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte wird auch im nächsten Jahr das Sorgenkind Nummer 1 der Patienten bleiben.

Wirtschaft: Wir werden uns 2024, wenn überhaupt, nur sehr langsam aus dem Wirtschaftsabschwung erholen. Auch bei zurückgehender Inflation werden die Zinsen anfangs hoch bleiben, die Betriebe unter Energie- und Personalkosten leiden und den Menschen die Lebensmittelpreise als unverschämt hoch erscheinen. Die Tourismuswirtschaft wird endlich als der Wirtschaftsmotor erkannt werden: ihr wird es überraschend gut gehen.

Fazit: Es könnte manches aber auch ganz anders kommen. Womit ich den Kreis zurück zur Wissenschaft doch noch geschlossen hätte!

Der Autor

(Foto: beigestellt)


Peter Zellmann ist seit 1987 Leiter des Wiener Instituts für Freizeit- und Tourismusforschung (IFT). Im Rahmen dieser Tätigkeit widmet er sich vor allem der empirischen Sozial- und Zukunftsforschung in den Bereichen Lebensstile, Arbeit und Freizeit. Außerdem ist er als Wirtschafts- und Politikberater tätig. Im Zuge seiner Forschungsarbeit hat Peter Zellmann zahlreiche Vorträge gehalten und Publikationen veröffentlicht.
www.zellmann.net

 

 

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