Der Fachkräftemangel bleibt trotz Wirtschaftsflaute noch immer die größte Herausforderung für Österreichs Unternehmen. Aus guten Gründen halten viele Betriebe an ihren Mitarbeiter*innen fest – auch wenn die Umsätze derzeit eher nach unten weisen.
Bosch, SAP, VW, KTM, Swarovski – die Liste der Großunternehmen, die hunderte oder gar tausende Stellen abbauen wollen, wird immer länger. Doch auch im Mittelstand knirscht es, da sich der Konjunkturhimmel im dritten Jahr in Folge nicht lichtet. Viele Betriebe stehen vor einem Dilemma: Bisher wurden die prall gefüllten Auftragsbücher abgearbeitet, doch langsam macht sich die Wirtschaftsflaute bemerkbar. Hatten viele Unternehmen im Vorjahr noch »händeringend« um neue Mitarbeiter*innen geworben, ist man sich nun nicht mehr so sicher, ob diese mittelfristig tatsächlich benötigt werden.
Die Beschäftigungsdynamik könnte sich 2025 vorübergehend einbremsen. Im Rahmen einer aktuellen EY-Studie äußerte knapp ein Viertel der Befragten zuletzt die Absicht, neues Personal einzustellen. Gleichzeitig bleibt der Anteil jener Betriebe, die Stellen streichen wollen, mit 18 Prozent auf hohem Niveau – noch höher lag dieser Anteil nur zu Jahresbeginn 2009, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise. Durch Insolvenzen kamen zuletzt schubweise Arbeitssuchende in großer Zahl auf den Arbeitsmarkt, allerdings nicht unbedingt mit jenen Qualifikationen, die derzeit gefragt sind.
»Der Fachkräftemangel ist ein strukturelles Problem, das nicht von heute auf morgen gelöst werden kann«, erklärt Erich Lehner, Partner bei EY Österreich. »Besonders kleinere Unternehmen sind in diesem intensiven Wettbewerb stark gefordert, da sie häufig weniger Ressourcen für komplexe Rekrutierungsprozesse haben. Der Druck steigt, neue Strategien zur Gewinnung und Bindung von Fachkräften zu entwickeln, um wettbewerbsfähig zu bleiben.«
Grafik: Fachkräftemangel
Grafik: Der Fachkräftemangel bleibt aus Sicht der Mittelständler die größte Gefahr für das eigene Wachstum – ebenfalls besonders riskant: eine mögliche Rezession, hohe Energiepreise und die Inflation.
Paradoxe Situation
Es ist nämlich geradezu paradox: Weder die lahme Konjunktur noch die hohen Energiepreise bereiten den Unternehmer*innen die größten Sorgen – es ist nach wie vor der Fachkräftemangel. 71 Prozent der befragten Betriebe beklagen, keine ausreichend qualifizierten Mitarbeitenden zu finden. Mehr als die Hälfte gibt an, derzeit offene Stellen nicht besetzen zu können. Besonders betroffen sind der Gesundheits- und Life-Science-Bereich sowie die Tourismusbranche. Die wirtschaftlichen Auswirkungen des Fachkräftemangels machen sich bereits bemerkbar. 35 Prozent der mittelständischen Unternehmen beklagen Umsatzeinbußen oder nicht realisierte Potenziale infolge unbesetzter Stellen. »Die langfristigen Folgen der Vakanzen sind spürbar: Viele Unternehmen können geplante Projekte nicht umsetzen, die Effizienz leidet und das Wachstum bleibt hinter den Erwartungen zurück«, sagt EY-Mittelstandsexperte Lehner.
Personalberater Martin Mayer, Geschäftsführer der Iventa Group, ortet unterschiedlichen Bedarf in bestimmten Sektoren des Arbeitsmarkts: »Nach wie vor gibt es einen erheblichen Fachkräftemangel in personenbezogenen Berufsfeldern wie Pflege, Gastronomie und Vertrieb. Ebenso sind Fachkräfte in technischen Bereichen wie Elektrotechnik, Klimatechnik und Mechatronik stark gefragt.« Er warnt davor, bei sinkenden Umsätzen voreilig Kündigungen vorzunehmen: »Ein Personalabbau sollte stets das letzte Mittel unternehmerischer Entscheidungen sein. Unternehmen müssen sich bewusst sein, dass wir aufgrund des demografischen Wandels mittelfristig wieder mit einem Fachkräftemangel konfrontiert sein werden.« Während die starke Babyboomer-Generation in Pension geht und in ganz Europa die Geburtenraten sinken, sind immer weniger Österreicher*innen bereit, Vollzeit zu arbeiten. Für den Demografieforscher Rainer Münz ist legale Arbeitsmigration auf lange Sicht der einzige Ausweg aus der Misere: »Wir werden in Zukunft mehr Arbeitskräfte brauchen, die wir aus dem Ausland holen müssen.«
10.000 neue Fachkräfte wollte Wirtschaftsminister Martin Kocher mit der Rot-Weiß-Rot-Karte aus Drittstaaten nach Österreich holen. Bis Oktober 2024 wurde sie rund 8.000 Personen ausgestellt, mehr als im gesamten Jahr 2023. Überraschenderweise kommen rund 20 Prozent der Arbeitswilligen aus China, gefolgt von bosnischen und indischen Arbeitskräften. Zwar fanden sich unter den chinesischen Zuwanderern auch begehrte IT-Spezialist*innen, die überwiegende Mehrheit arbeitet jedoch im Gastgewerbe, wo sie in den heimischen China-Restaurants die erste Generation der Austro-Chinesen ablösen. Dass eine mögliche blau-schwarze Regierung indessen den Zuzug von Arbeitskräften aus dem Ausland erleichtern wird, ist indessen unwahrscheinlich. Ebenso ist angesichts des hohen Budgetdefizits nicht mit einer Ausweitung der Qualifizierungsmaßnahmen für arbeitslose Personen zu rechnen.
Kostentreiber Recruiting
Die große Schwierigkeit, wieder neues Personal zu finden, ist tatsächlich ein Grund, weshalb viele Unternehmen zögern, ad hoc Mitarbeiter*innen abzubauen. Der Arbeitsmarkt ist in manchen Bereichen praktisch leer, die Rekrutierungskosten stiegen um knapp 13 Prozent. KI-gestützte Tools können die Prozesse zwar automatisieren und effizienter gestalten, letztlich bleibt die Suche und Auswahl von Bewerber*innen jedoch ein erheblicher Kostentreiber. Noch ein weiterer Effekt einer Kündigungswelle ist nicht zu unterschätzen: Das Vertrauen und die Arbeitsmoral der verbleibenden Mitarbeiter*innen leiden massiv. Laut einer in der Harvard Business Review veröffentlichten Studie, für die 146 Unternehmen untersucht wurden, die zwischen März 2020 und November 2022 im großen Stil Jobs abgebaut haben, braucht es zwölf bis 18 Monate, bis in der Belegschaft wieder Ruhe einkehrt.
Ob es sich für ein Unternehmen tatsächlich »auszahlt«, Stellen zu kürzen, sollte daher mit Weitblick überlegt werden. Iventa-Chef Martin Mayer rät dazu, die Wachstumsflaute für antizyklische Investitionen zu nützen, um gut gerüstet zu sein, wenn die Konjunktur wieder anspringt: »Unternehmen sollten ihren Fokus verstärkt auf die bessere Nutzung und die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten moderner KI-Tools legen. Die Entwicklung von Kompetenzen in diesem Bereich eröffnet neue Möglichkeiten, Arbeitsprozesse zu optimieren und zukunftsfähig zu bleiben.« Die Intensivierung von Aus- und Weiterbildung ist zudem eine wichtige Stellschraube, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken – und macht Arbeitgeber im Talentekampf nachweislich attraktiver.
Gespräch: »Gerade jetzt gezielt investieren«
Bild: Peter Dziergas ist Geschäftsführer der Personaltrainingsorganisation Dale Carnegie Austria.
Personal abbauen oder trotz Krise behalten? Qualifizierte Fachkräfte sind nach wie vor sehr begehrt, gibt Peter Dziergas, Geschäftsführer von Dale Carnegie Austria, zu bedenken.
Ist ein Personalabbau in der derzeitigen Wirtschaftslage ratsam?
Peter Dziergas: Dies hängt von mehreren Faktoren ab, die wirtschaftliche, branchenspezifische und unternehmensinterne Aspekte umfassen. Manche Branchen erleben Wachstum, während andere rückläufig sind. Der Verlust von qualifiziertem Personal inklusive deren Innovationskraft, kann geringere Wettbewerbsfähigkeit und hohe Kosten verursachen, wenn sich die Lage verbessert und neues Personal eingestellt werden muss. Die Unternehmen sollten daher auch Alternativen zum Personalabbau, wie Kurzarbeit, Arbeitszeitreduktionen, Pensionierungen oder Umschulungen, in Betracht ziehen.
Welche Fachkräfte sind noch immer stark gefragt?
Dziergas: Fachkräfte im IT-Bereich sind nach wie vor sehr gefragt, da die Digitalisierung in vielen Unternehmen voranschreitet. Ebenso alle technischen Fachkräfte für ökologische Transformation und die Umstellung auf erneuerbare Energiequellen. Der Bedarf an qualifiziertem Personal im Gesundheits- und Sozialwesen ist weiterhin hoch, ebenso fallweise im Tourismus. Besonders hinweisen möchte ich aber auch auf Menschen in Bildungsberufen, welche zur Bewältigung der sozialen und kulturellen Herausforderungen in unsere Gesellschaft unerlässlich sind.
In welche Qualifizierungsmaßnahmen sollten Unternehmen jetzt investieren?
Dziergas: Neben branchenspezifischen Weiterbildungen sind auch Qualifikationen in Nachhaltigkeit, Digitalisierung und sozialen Kompetenzen zu empfehlen. Investitionen in gezielte Entwicklungsmöglichkeiten stärken die Mitarbeiterbindung. Schulungen zur effizienten Nutzung von Tools für das Remote-Arbeiten erzielen mehr Produktivität. Programme zu Flexibilität, Resilienz und Innovation bieten die Möglichkeit, Mitarbeitende nicht nur besser vorzubereiten, sondern auch zu motivieren. Gerade jetzt gezielt investieren – das stärkt die Wettbewerbsfähigkeit und die Mitarbeiterzufriedenheit!
Tipps für effektives IT-Recruiting
Der Mangel an IT-Fachkräften hat mehrere Ursachen. Mit neuen Technologien entwickelt sich die gesamte Branche insbesondere in den Bereichen Künstliche Intelligenz, Cloud Computing, Data Analytics oder Cybersecurity sprunghaft weiter. Die Nachfrage nach Spezialist*innen wächst schneller, als Schulen und Universitäten Absolvent*innen hervorbringen. Ein Teil des Problems dürfte jedoch hausgemacht sein: Unternehmen setzen in ihren Stellenausschreibungen oft Anforderungen, die von potenziellen Bewerber*innen kaum erfüllbar sind, etwa mehrjährige Berufserfahrung in Technologien, die erst seit kurzem auf dem Markt sind, Kombinationen von Fachkompetenzen, die selten in einer Person vereint sind, sowie übertriebene Erwartungen an Soft Skills und Flexibilität.
Active Sourcing
Plattformen wie LinkedIn bieten gute Möglichkeiten, qualifizierte Fachkräfte gezielt zu kontaktieren. Eine personalisierte Ansprache, die individuelle Fähigkeiten und Interessen der Kandidat*innen berücksichtigt, erhöht die Erfolgschancen beträchtlich. Zusätzlich sollten Unternehmen einen Talentepool aufbauen.
Candidate Journey
Lange und komplizierte Prozesse schrecken potenzielle Bewerber*innen ab. Sie wünschen sich zeitnahe und transparente Informationen über den Stand ihrer Bewerbung. Ein kurzer Anruf oder eine personalisierte E-Mail zeigen Wertschätzung und stärken das Vertrauen in das Unternehmen.
Employer Branding
Social-Media-Plattformen oder IT-Foren sind ideal, um die Unternehmenskultur zu präsentieren. Auch eine ansprechende Website, die Einblicke in den Arbeitsalltag bietet, erhöht die Attraktivität des Unternehmens. Berichte von Mitarbeitenden sollten jedoch authentisch sein, um ein überzeugendes Bild zu vermitteln.
Benefits
Homeoffice und flexible Arbeitszeiten zählen mittlerweile zu den Grundanforderungen für Jobs. Auch mit Fitnessangeboten und Klimaticket können Arbeitgeber punkten. Unternehmen, die Personenzertifizierungen, Schulungen und andere Weiterbildungsmöglichkeiten anbieten, heben sich positiv ab.
IT-Nachwuchs gesucht
Der Fachkräftemangel in der IT-Branche hat sich in den letzten Jahren durch die zunehmende Digitalisierung massiv verschärft. In ganz Österreich fehlen 2025 rund 28.000 IT-Fachkräfte. Davon werden nach Angaben der Wirtschaftskammer Wien (WKW) allein in Wien 6.000 gebraucht. Bereits seit 2023 arbeitet die Fachgruppe UBIT mit den Wiener HTLs zusammen, die IT als Schwerpunkt anbieten. »Die in den HTLs ausgebildeten Fachkräfte sind am Wirtschaftsstandort Wien und darüber hinaus enorm nachgefragt«, erklärt UBIT-Obmann Martin Puaschitz. Durch Kooperationen mit Unternehmen soll der Unterricht praxisnaher gestaltet werden. Zudem will man die Lehre zur IT-Fachkraft forcieren – 2024 stieg der Anteil der IT-Lehrlinge auf 3,8 Prozent.