Nachhaltigkeit ist ein breit gefächertes Themenfeld. Was ist für Ihr Unternehmen wesentlich und wie gelingt die Wesentlichkeitsanalyse? Im fünften Teil der REPORT-Serie geht es um die strukturierte Vorgehensweise dabei und was das mit Risikomanagement und Zukunftsfähigkeit zu tun hat.
Unternehmen, die im Rahmen der europäischen Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD) berichten müssen, schaffen mit der Wesentlichkeitsanalyse die Basis für die Berichte und die eigene Unternehmensentwicklung.
Risikomanagement – Vorsorge für gesunde Unternehmen
Die strukturierte Identifikation, Erfassung und Bewertung von Risiken sollte zum Standardrepertoire der guten Unternehmensführung (Governance) gehören. Denn wenn sich Organisationen nicht mit ihrem Umfeld und den diversen Veränderungen beschäftigen, werden sie oft „überrascht". Das reicht von regulatorischen Änderungen, über Veränderungen im Markt bis hin zu physikalischen Klimarisiken.
Nach der Erfassung der Risiken werden diese anschließend hinsichtlich der Eintrittswahrscheinlichkeit und den quantitativen Auswirkungen bewertet. Dieser Betrachtungsweise von Risiken, die auf das Unternehmen wirken, wird auch als finanzielle Wesentlichkeit oder Outside-in-Perspektive bezeichnet.
Wesentlichkeitsanalyse nach ESRS
Auf diese Betrachtungsweise baut die europäische Nachhaltigkeitsberichterstattung auf und kombiniert dazu noch die Inside-out-Perspektive. Damit bezeichnet man die Auswirkungen des Unternehmens auf sein Umfeld – sowohl in ökologischer als auch in sozialer Hinsicht.
Der europäische Nachhaltigkeitsberichtstandard ESRS nutzt als Kernaspekt diese doppelte Wesentlichkeit. Im Zuge der Berichterstattung ist oft von der Abkürzung „IRO" die Rede. Diese setzt sich aus den Auswirkungen (Impact), Risiken (Risks) und Chancen (Opportunities) zusammen. Wie geht man im Detail bei der Wesentlichkeitsanalyse nach ESRS vor?
Für den Erfolg des Verfahrens braucht es ein klares Bekenntnis der Unternehmensführung und entsprechende Ressourcen in Form von Zeit und Know-how. Im Gegenzug weiß das Unternehmen danach genau, mit welchen Themen es die stärksten Auswirkungen im eigenen Betrieb und in der Prozesskette verursacht und wo Verbesserungspotentiale liegen – sowohl positiver als auch negativer Natur.
Wie geht man vor?
Beginnen Sie gleich von Beginn an die einzelnen Schritte, die verwendeten Unterlagen, die Annahmen und die Unsicherheit zu notieren, denn das Verfahren ist umfangreich und muss bei der Evaluierung schlüssig dargelegt werden. Grundsätzlich sollten die Daten auf der höchsten Unternehmensebene für alle Standorte aggregiert werden. Sind eventuell einzelne Länder oder Standorte speziell in ihren Auswirkungen, ist dies entsprechend darzustellen.
1. Vorbereitung
In diesem Schritt werden die bereits vorhandenen Einflussgrößen gesammelt.
- Beginnen Sie mit der Übersicht über die Prozesse inklusive vor- und nachgelagerter Prozesskette (Link Teil 3). Wo befinden sich die Standorte des Unternehmens? Gibt es dort bereits Hinweise auf relevante Themen? Beispielsweise ressourcenintensive Prozesse, der Einsatz von Materialien aus Konfliktregionen oder umweltschädlicher Substanzen, Landnutzungskonflikte oder ähnliches.
- Gibt es gesetzliche und regulatorischen Anforderungen, die zu beachten sind (z. B. EU-Taxonomie, Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz/CSDDD).
- Sind Branchenstandards zu beachten?
- Welche Marktentwicklungen sind zu erwarten?
- Gibt es bereits ein Risikomanagement? Wenn ja, welche Themen wurden dort analysiert?
- Welche Bereiche umfassen bestehende Strategien, Ziele und Maßnahmen?
2. Erkenntnisse aus der Stakeholder-Einbindung
Im Teil 4 dieser Serie (Link) ging es um die Anspruchsgruppen und deren Einbindung. Aus diesem Feedback lassen sich auch Rückschlüsse auf wichtige Themenfelder ziehen. Beispielsweise könnten lokale Gemeinden durch die Arbeit des Unternehmens betroffen sein (z.B. Wassernutzung oder -verschmutzung). Es können aber gleichzeitig positive Effekte, wie die Schaffung von Arbeitsplätzen, entstehen.
3. Auswahl der Nachhaltigkeitsthemen (long list und short list)
Aus den ermittelten Eingangsgrößen und den Ergebnissen der Stakeholder-Einbindung lassen sich bereits eine Reihe von Erkenntnissen ableiten. Sinnvoll ist die Wesentlichkeitsanalyse auf Basis der im ESRS dargestellte Liste (ESRS 1 Anlage A AR 16) mit allen Themen und Unterpunkten aufzubauen und diese gegebenfalls mit unternehmens- oder branchenspezifischen Aspekten zu ergänzen (long list).
Prüfen Sie anhand dieser Liste, ob die Aspekte für das Unternehmen, die vor- und nachgelagerte Prozesskette bzw. die Stakeholder wichtig sind bzw. sein könnten – sowohl positiv als auch negativ. Die Betrachtung ist für die Zeiträume kurz-, mittel- und langfristig durchzuführen um auch mögliche künftige Änderungen zu berücksichtigen.
An dieser Stelle werden wahrscheinlich bereits erste Themen rausfallen (short list). Beispielsweise wird ein Dienstleistungsbetrieb in Österreich wenig Auswirkung auf indigene Bevölkerungen oder direkte Auswirkungen auf die Biodiversität haben. Wenn es sich um ein Produktionsunternehmen mit ressourcenintensiven Vorketten handelt, sieht die Betrachtung selbstverständlich anders aus. Notieren Sie jedenfalls die Anwendung von Ausschlusskriterien und die jeweiligen Schwellenwerte bei der Entscheidungsfindung.
4. Die Wesentlichkeit der Auswirkungen (Impact Materiality)
In diesem Bereich wird analysiert, wie das Unternehmen die Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft beeinflusst. Also welche negativen oder positiven Auswirkungen hat das Unternehmen auf seine Stakeholder und die Umwelt? In diesem Bereich sind Beispiele wie Emissionsausstoß, Auswirkungen auf die Biodiversität oder die Einhaltung von Menschenrechten entlang der gesamten Lieferkette zu nennen.
Unter Verwendung von qualitativer und quantitativer Indikatoren (z. B. Emissionsdaten, soziale Auswirkungen) werden die negativen Aspekte hinsichtlich Wahrscheinlichkeit und Schweregrad im kurz-, mittel- und langfristigen Kontext bewertet. Der Schweregrad setzt sich aus folgenden drei Faktoren zusammen:
1. Dem Ausmaß, wie schwerwiegend oder nützlich die Auswirkungen sind.
2. Dem Umfang. Darunter versteht man beispielsweise ein betroffenes Gebiet oder die Größe einer betroffenen Gruppe.
3. Der Unabänderlichkeit der Auswirkungen, ob diese gegebenenfalls wieder rückgängig gemacht werden können oder nicht.
Im Falle möglicher negativer Auswirkungen auf die Menschenrechte hat der Schweregrad der Auswirkungen Vorrang vor ihrer Wahrscheinlichkeit.
Bei den Chancen werden der Umfang und das Ausmaß bei tatsächlichen Auswirkungen betrachtet. Sind die positive Aspekte potentiell wird zusätzlich die Wahrscheinlichkeit integriert.
5. Die finanzielle Wesentlichkeit (Financial Materiality)
Diese ist gegeben, wenn Nachhaltigkeitsthemen kurz-, mittel- oder langfristig Risiken oder Chancen mit sich bringen, die wiederum Auswirkungen auf die Finanzlage, die finanzielle Leistungsfähigkeit, die Cashflows, den Zugang zu Finanzmitteln oder die Kapitalkosten des Unternehmens haben bzw. haben können. Das können beispielsweise physikalische Klimarisiken auf Standorte und Lieferketten oder regulatorische Veränderungen wie CO2-Preise sein.
Mithilfe von Szenarioanalysen und Risiko- und Chancenbewertungen wird das potentielle Ausmaß der finanziellen Auswirkungen und die Eintrittswahrscheinlichkeit bewertet.
6. Zusammenführung und Priorisierung
Die so ermittelten Werte werden in einer Wesentlichkeitsmatrix dargestellt. Die X-Achse zeigt die finanzielle Wesentlichkeit, auf der Y-Achse wird die Wesentlichkeit der Auswirkungen dargestellt. Zusätzlich können Größen der Datenpunkte oder Pfeile für Trends im zeitlichen Verlauf genutzt werden um weitere Informationen zu vermitteln.
Und an dieser Stelle wird es spannend, denn durch einen gesetzten Grenzwert wird klar, welche Themen wesentlich sind. Dazu ist es egal, ob sie finanzieller Natur sind oder Auswirkungen auf Menschen und Natur haben oder beides. Sobald die Themen über dem Grenzwert liegen, müssen sie im Rahmen der weiteren ESRS Vorgaben berichtet werden. Zusammengefasst ist zu sagen, dass die Wesentlichkeitsanalyse die Themen darstellt, die
auswirkungsstärker oder finanziell relevanter bewertet wurden als andere.
7. Validierung und Aktualisierung
Das komplette Verfahren ist durch die Geschäftsführung oder den Vorstand zu validieren und freizugeben. Dies ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, denn die CSRD-Richtlinie sieht haftungsrechtliche Konsequenzen bei Nichteinhaltung vor.
Wie oft die Wesentlichkeitsanalyse aktualisiert werden soll, hängt davon ab, in wie weit sich die Geschäftsmodelle oder wesentliche Themen ändern. Empfohlen wird ein Intervall von ein bis drei Jahren.
8. Dokumentation und Berichtserstellung:
In der Praxis hat sich gezeigt, dass Unternehmen zwischen drei und fünf Themen als wesentlich betrachten. Für diese sind gemäß den themenspezifischen ESRS-Standards die dort vorgeschriebenen Inhalte zu berichten. Dies beinhaltet Angaben zu den jeweiligen Strategien und Governance-Regelungen, Informationen über Ziele, sowie zu umgesetzten Maßnahmen und Kennzahlen. Damit wird sich eine der nächsten Artikel in dieser REPORT-Serie drehen.
Wozu lohnt sich der Aufwand für die Wesentlichkeitsanalyse?
Die doppelte Wesentlichkeitsanalyse liefert eine umfassende Priorisierung von Nachhaltigkeitsthemen und ist ein Schatz für die strategische Unternehmensentwicklung. Denn die sichtbaren Potentiale ermöglichen die zielgerichtete Verbesserung um das Unternehmen resilient, wettbewerbsfähig und zukunftsfähig zu erhalten.
Fazit
Unternehmen, die von der europäischen Nachhaltigkeitsberichtspflicht (CSRD) betroffen sind, müssen Informationen veröffentlichen, welche relevant für das Verständnis der Auswirkungen der Unternehmensaktivitäten auf Umwelt, Menschen und Wirtschaft sowie relevant für das Verständnis der Auswirkungen von Nachhaltigkeitsthemen auf das Geschäftsergebnis, den Geschäftsverlauf und die finanzielle Lage des Unternehmens sind. Der Prozess ist umfangreich, dient aber als fundierte Ausgangsbasis für die gezielte Verbesserung und Weiterentwicklung der Organisation.
Im sechsten Teil dieser REPORT Serie erfahren Sie, welche Themenbereiche der europäischen Nachhaltigkeitsberichtstandard ESRS abdeckt.
Hier geht es zu Teil 1 und Teil 2 und Teil 3 und Teil 4 und Teil 5 der Serie.
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