ICG-Unternehmensberaterin Eva Grieshuber lernte auf ihrer Studienreise ein China der Gegensätze kennen.
(+) plus: Wurde Ihnen bei den Firmenbesuchen über die Strategie »Made in China 2025« berichtet?
Eva Grieshuber: Dass China viel vorhat, war überall spürbar. Wir waren in sehr unterschiedlichen Unternehmen, von großen Konzernen über öffentliche Einrichtungen bis hin zu Start-ups. China hat den Anspruch, in allen technologischen Bereichen Erster zu werden. Das zeigt sich anhand sehr ambitionierter Projekte ebenso wie an den Größenordnungen, was die Investitionshöhe, die räumlichen Dimensionen und die Geschwindigkeit, mit der alles realisiert wird, betrifft.
In Shanghai entsteht entlang des Flusses auf einer Länge von zehn Kilometern ein neuer Stadtteil mit Nutzungsmöglichkeiten von Business über Forschung und Innovation bis hin zu Kultureinrichtungen. Noch vor wenigen Jahren konnte man in Shanghai wegen des Smogs kaum den Himmel sehen. Inzwischen sind Zweitaktmotoren verboten und ausschließlich E-Roller und viele E-Autos unterwegs. Innerhalb kurzer Zeit wurde eine staatliche Gendatenbank für bedrohte Tier- und Pflanzenarten aufgebaut, die auch einen Genpool der Bevölkerung erfassen soll. Die Strategie wird sehr konsequent umgesetzt. Man nimmt sich Projekte vor, definiert Ziele und legt los.
(+) plus: Ist Fortschritt unter staatlicher Kontrolle möglich?
Grieshuber: Wir waren in hochindustrialisierten Gebieten wie Shanghai, Shenzhen und Hangzhou, wo das Pro-Kopf-Einkommen höher liegt als in anderen Provinzen. Unternehmertum an sich ist ein hoher Wert. Es gibt eine ganze Reihe an herausragenden unternehmerischen Persönlichkeiten. Scheinbar kann alles umgesetzt werden. In der Forschung kann ich das nicht beurteilen, aber staatliche Lenkung ist hie und da zu vermuten. Das ist in jeder Hinsicht sehr ambivalent. Die Umsetzung dieser großen Projekte ist ja nur möglich, weil nicht jahrelang diskutiert wird, bevor man eine Entscheidung trifft.
(+) plus: Wurde Ihnen ein echter Einblick in die Unternehmen gewährt?
Grieshuber: In den chinesischen Unternehmen gab es vorwiegend Standardpräsentationen und Ansprachen, die nicht sehr spontan waren. Die zentrale Botschaft war: »Wir wollen Innovationsführer werden und laden alle zur Kooperation ein.« In nicht-chinesischen Unternehmen wurde uns vermittelt, dass man hier nicht alles sagen könne. In einer Softwareentwicklungsfirma konnten wir mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern diskutieren. Die waren recht aufgeschlossen und hatten auch schon agile Methoden eingeführt. Aber wir bekamen sicher überall nur einen selektiven Einblick.
(+) plus: Wie passen agile Methoden zu dem autoritären Führungsstil, der bisher in China üblich war?
Grieshuber: In einigen Branchen, vor allem im Bereich Software, hat sich Agilität rasch verbreitet. Die Chinesen sind in der Regel sehr pragmatisch. Wenn sich Ansätze wie Agilität bewährt haben, wird das fortgeführt. Da geht es weniger um Ideologien.
Von der Grundhaltung her, würde ich sagen, sind die Chinesen superagil. Sie probieren etwas aus – wenn es scheitert, wird es als »Learning« verstanden, wenn es funktioniert, wird daran angeknüpft. Idealerweise wird mit einer Idee Geld verdient: Wirtschaftlicher Erfolg ist hoch angesehen und ein wichtiger Antrieb. Bei einem jungen Elektroautohersteller steckte in allem, das uns gezeigt und in schillernden Farben erzählt wurde, noch viel Fantasie.
(+) plus: Das chinesische Schulsys-tem ist nicht gerade dafür bekannt, dass Kreativität und Individualität gefördert werden. Ist das nicht ein Widerspruch zur nun propagierten Selbstständigkeit?
Grieshuber: Hierarchie ist in den Unternehmen ein wichtiger Punkt. Wie viel Selbstorganisation möglich ist, weiß ich nicht. Ein Bildungswissenschafter bei einem Vortrag an der Universität zweifelte, ob Drill, Disziplin und Reproduktion von Wissen passend für aktuelle und künftige Anforderungen sei. Die Kinder würden völlig falsch erzogen und damit die Ressourcen der Zukunft zerstört.
Es gibt es Pilotprojekte, um Kreativität, Interdisziplinarität und eigenverantwortliches Lernen zu etablieren. Was dieser Wissenschafter aber als innovativ vorgestellt hat, ist bei uns an vielen Schulen längst Standard – und wir sind ja nicht gerade die Vorreiter im Bildungssystem.
(+) plus: Lässt sich so ein großer Umbruch überhaupt von oben diktieren?
Grieshuber: Ich glaube, es braucht das klare Bekenntnis, dieses Ziel zu erreichen und dafür die nötigen Rahmenbedingungen, Finanzierung und gesetzliche Regulative zu schaffen. Aber auch starke kapitalistische Player, die aus unternehmerischem Interesse diese Möglichkeiten nutzen. In China ist diese Kombination da, mit allen Schatttenseiten: ein Demokratieverständnis, das nicht unserem entspricht, wenig Partizipation, ständige Beobachtung. In Shanghai gibt es noch traditionelle kleine Siedlungen, die werden einfach abgerissen. Man fährt kilometerlang neben Wolkenkratzer-Wohntürmen. Die Menschen bekommen eine finanzielle Abgeltung und siedeln um – wie freiwillig das ist, kann ich nicht beurteilen. Das wird durchgezogen, ohne große Fragen zu stellen.
(+) plus: Konnten Sie sich frei bewegen?
Grieshuber: Ich war in Shanghai laufen und habe mich überall frei und sicher gefühlt. Alle paar Meter sind Pfosten mit Kameras, die in alle Richtungen ausgerichtet sind. Der gläserne Mensch ist dort Wirklichkeit. In Peking gibt es zum Beispiel ein Erziehungsprogramm als Pilotprojekt: Wer bei Rot über die Straße geht, wird mittels Gesichtserkennung identifiziert. Auf einem großen Bildschirm an der Kreuzung erscheint dann das Bild mit Namen.
(+) plus: Halten Sie das Ziel 2025 für realistisch?
Grieshuber: Vielleicht schaffen sie es nicht genau in dem Jahr oder in allen Bereichen. China wird aber in Zukunft das Weltgeschehen aktiv mitgestalten. Viele unterschätzen die Chinesen. Ich denke, wir sollten sie gut im Blick haben.