Geringeres Wachstum, Überalterung, Deflation, Immobilienkrise – Chinas Wirtschaft kommt seit der Corona-Pandemie nicht so recht vom Fleck. Das Ziel, im nächsten Jahrzehnt die USA als größte Wirtschaftsmacht abzulösen, scheint in weite Ferne gerückt. Steckt China dauerhaft in einer Sackgasse? Report(+)PLUS hat Expert*innen nach den Gründen gefragt.
Ist Chinas Aufschwung zur Wirtschaftsmacht Nr. 1 vorbei?
Hanne Seelmann-Holzmann
Geschäftsführerin der Unternehmensberatung Seelmann Consultants
China hat mit vielen Themen zu kämpfen, von denen die meisten im Westen nicht bekannt sind. Es leidet zum einen unter strukturellen Problemen (z.B. Schul- und Hochschulsystem), deren Folge eine zu geringe eigene technische Innovationskraft ist. Zum anderen verspürt China auch konjunkturell bedingte Krisen, etwa auf dem Immobilienmarkt. Die zukünftige Position in der Weltwirtschaft hängt auch davon ab, ob die westlichen Ökonomien ihre wirtschaftliche Stärke sichern und ihre technologische Stärke ausbauen können.
Michael Berger
Wirtschaftsdelegierter der Wirtschaftskammer Österreich in Peking
Das lässt sich so nicht bestätigen. Viele Unternehmen verfolgen zwar eine Diversifizierungs-Strategie in China. Nach der »Business Confidence Survey 2023«- Umfrage der EU-Handelskammer in Peking, haben etwa elf Prozent der befragten Unternehmen Investments von China in andere Länder verschoben. Dies ist laut dem Bericht auch bei chinesischen Unternehmen zu beobachten. Zwar ist der Optimismus vieler ausländischer Unternehmen bezogen auf ihr Chinageschäft gesunken, jedoch gehen immer noch mehr als die Hälfte von einer positiven Entwicklung in den nächsten Jahren aus. Der Aufschwung wird aber vermutlich nicht mehr in demselben Tempo wie in den letzten Jahrzehnten erfolgen.
Kristin Shi-Kupfer
Professorin für Sinologie an der Universität Trier und Senior Associate Fellow am Mercator Institute for China Studies (MERICS)
Kristin Shi-Kupfer, Professorin für Sinologie und Senior Associate Fellow MERICS. (Foto: Bettina Ausserhofer)
Chinas Entwicklung verläuft – wie kaum eine – nicht linear. Unsere Annahme war aber lange Zeit eine andere. Die zersetzende Kraft von ineffizienter Ressourcenverteilung und mangelnder Transparenz macht sich zunehmend bemerkbar. Die unter Xi Jinping zunehmende Ideologisierung der Wirtschaftspolitik hat vor allen Dingen das Vertrauen von privaten Investor*innen und Konsument*innen erschüttert. Für neue, nachhaltige Wachstumsdynamiken bräuchte es aber genau dies. Hinzu kommt: Die chinesische Regierung ringt mit der Qualität und der Erklärbarkeit ihrer Statistiken. Wie die Lage ist, wird immer schwieriger zu beurteilen.
Welche Rolle spielt die hohe Jugendarbeitslosigkeit?
Hanne Seelmann-Holzmann: Wer in China keinen Studienabschluss erzielt, hat wenig Berufschancen. Es gibt kein duales Ausbildungssystem. Die fachliche Qualifikation, z.B. im Produktionsbereich, übernehmen bisher hauptsächlich ausländische Investor*innen. Stagniert oder fehlt deren Engagement, kann dies nicht allein durch chinesische Unternehmen ausgeglichen werden. Wenn der Staat dieses Problem nicht löst, droht die Loyalität junger Menschen zum politischen System zu schwinden. Der bisherige Deal – die kommunistische Partei wird akzeptiert, da sie für steigenden Wohlstand sorgt – gerät damit in Gefahr.
Michael Berger: Seit August 2023 veröffentlicht China die Daten zur Jugendarbeitslosigkeit nicht mehr. Dies lässt auf sehr hohe Zahlen schließen. Bereits in den Monaten davor waren diese auf Rekordhöhe. 60 Prozent in der 16- bis 24-Jährigen in China haben keine Hochschulausbildung. Viele dieser jungen Menschen arbeiteten vor der Pandemie im Dienstleistungssektor, in Restaurants, Einkaufszentren, Touristenorten, aber auch als Arbeiter*innen in der Industrie oder auf dem Bau. Ein großer Teil dieser Jobs wurden infolge der Corona-Restriktionen gestrichen und nicht mehr neu besetzt.
Michael Berger vertritt die Wirtschaftskammer Österreich in Peking. (Foto: Valeri Angelov)
Bei den 40 Prozent Hochschulabsolvent*innen gibt es eine starke Diskrepanz zwischen deren theoretischer Hochschulausbildung und den praktischen Fähigkeiten, die von Arbeitgeber*innen gefordert werden. Durch die verstärkte staatliche Kontrolle und die damit verbundenen Restriktionen für die großen Internetplattformen wie Tencent, Alibaba, Taobao etc. gibt es auch in diesen traditionellen Einstiegsjobs für Jungakademiker*innen weniger Angebote.
Kristin Shi-Kupfer: Die hohe Jugendarbeitslosigkeit ist das Ergebnis von verfehlten sozio-ökonomischen Anreizen – keine alternativen Bildungs- bzw. Karrierewege – und der massiven staatlichen Eingriffe in den Dienstleistungssektor schon vor der Pandemie. Eine Generation, die lange Zeit mit Wohlstand und Nationalstolz aufgewachsen ist, wird nun in ihrem Blick auf und ihren Erwartungen an ihr Land erschüttert. Deren innerer Rückzug oder direkte Abwanderung beeinträchtigen die Vitalität des Landes.
Ist der politische Druck auf Unternehmen zu groß?
Hanne Seelmann: In den vergangenen Jahren hat sich in China eine digitale Autokratie entwickelt, die auch die westlichen Unternehmen einschließt. Es gibt jedoch keine repräsentativen Daten darüber, wie stark der chinesische Staat die geschäftlichen Aktivitäten der ausländischen Investoren tatsächlich zu beeinflussen sucht. Meine Kund*innen berichten über sehr unterschiedliche Erfahrungen. Fakt ist, dass der chinesische Staat – ob offen oder verdeckt – schon immer seine Kontrollmöglichkeiten genutzt hat.
Hanne Seelmann leitet die auf den asiatischen Raum spezialisierte Unternehmensberatung Seelmann Consultants. (Foto: Seelmann Consultants)
Michael Berger: Der politische Druck hat in den letzten zwei Jahren zweifellos zugenommen. Etwa 62 Prozent der befragten europäischen Unternehmen haben für das Jahr 2022 angegeben, dass sie gewisse Geschäftsmöglichkeiten aufgrund von regulatorischen Anforderungen oder sonstigen Hindernissen wie spontanen Lockdowns nicht wahrnehmen konnten. 59 Prozent bestätigten, dass Geschäfte in China immer mehr politisiert werden. Auch durch die Gesetzgebung und die unklaren Anwendungsbestimmungen, wie z.B. zum neuen Anti-Spionage Gesetz vom Juli 2023, zum Datenschutz und zum Sicherheitsgesetz, wird der Druck erhöht. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Erleichterungen wie die Verlängerung der Steuervorteile für Expat-Manager*innen oder monetäre Anreize, mit denen viele Provinzregierungen versuchen, ausländische Investitionen zu ködern.
Kristin Shi-Kupfer: Die staatlichen Eingriffe in den Dienstleistungssektor und die strikte Lockdown-Politik hat vor allem viele kleinere und mittelständische, nicht-staatliche Unternehmen verunsichert. Beijing hat politisch-ideologische Ziele über ökonomische Prioritäten gestellt. Auch nicht wenige halbstaatliche Unternehmen versuchen Gelder außer Landes zu schaffen, da sie um ihre Vermögen und Geschäftsaktivitäten fürchten. Jüngst versucht die chinesische Regierung gegenzusteuern, bis dato nur mit mäßigem Erfolg.