Sonntag, Dezember 22, 2024

Schnell aufeinander folgende Großkrisen und tiefe Verunsicherung machen den Menschen heute zu schaffen. Die Frage nach der persönlichen Stabilität ist existenziell. Was hilft, ist ein Bewusstsein über das Verhältnis von Veränderung und Beständigkeit.

Das Leben ist schnell, der Mensch aber ist langsam. Mit diesem Satz bringt es der deutsche Philosoph Odo Marquard auf den Punkt. Die Neuzeit hat ein Lebensmodell hervorgebracht, das auf permanente Veränderung, ja Beschleunigung setzt. Gleichzeitig kratzt der beschleunigte Wandel an dem Bedürfnis nach Sicherheit, Beständigkeit, Verlässlichkeit, Kontinuität. 
Der Mensch ist langsam. Er erfindet sich nicht jeden Tag neu, sondern braucht viel Gleichbleibendes. In Zeiten starker Umbrüche, in denen einem scheinbar der Boden unter den Füßen weggezogen wird, verstärkt sich die Sehnsucht nach Stabilität. Der Satz »Ich will mein altes Leben zurück« geht um. Dieses Leben wird es jedoch so nicht mehr geben. Es kann aber ein Bewusstsein für das eigenwillige Verhältnis von Wandel und Stabilität entwickelt werden. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich um die beiden Seiten einer Medaille. Ein Veränderungsbewusstsein macht den Blick frei für einen gewinnbringenden Umgang mit Krisen und Umbrüchen. Aber wie soll das aussehen? Hier werden vier Anhaltspunkte dazu gegeben.

Ein anderer Blick auf Krisen

Für die alten Griechen gehen Kairos, der rechte Augenblick, und Krisis, was mit Wendepunkt übersetzt werden kann, oft Hand in Hand. Wenn man ein Bewusstsein für diesen Zusammenhang entwickelt, stellt sich plötzlich vieles anders dar. Zum Beispiel bei der Erziehungs- oder Führungsarbeit. Erst wenn etwas schiefgegangen ist, ist es ansprechbar und bearbeitbar. Der Konflikt im Team ist schwer auszuhalten. Wenn er angepackt wird, können Probleme in der Kommunikation erkannt und frische Kräfte freigesetzt werden. Management ist auch die Kunst, ein Team und ein Unternehmen an schwierigen Herausforderungen wachsen zu lassen.

Ein anderer Blick auf Krisen, eine andere Einstellung zu Krisen hilft, nicht in Pessimismus zu verfallen, sondern darin den Kairos, die günstige Gelegenheit zu erkennen. Die ausbleibenden Gaslieferungen, das böse Spiel mit der Versorgungsmacht steigern bei uns traditionsverbundenen Europäer*innen die Offenheit für alternative Lösungen kolossal. Wie viele regionale Konzepte von Biomasse- oder Hackschnitzelheizkraftwerken, Wind- und Solarparks beispielsweise wurden in den letzten Jahren und Jahrzehnten von Gemeinden und Bürgern abgelehnt? Das dürfte sich nun in kurzer Zeit ändern. Offenbar bedarf es der Krise, um eine Umkehr zu erzwingen. 

Das Gleichbleibende im Wandel

Auch wenn sich unser Leben stark verändert, bleibt doch mehr erhalten, als man im Zustand der Sorge und der Verlustangst wahrnimmt. Zum Beispiel die Routinen im Alltag: Der Berufsalltag gibt dem Tag eine Struktur mit sich wiederholenden Tätigkeiten, Standardabläufen, formalen und informellen Gesprächen. Privat gibt es hier das regelmäßige Telefonat mit Familienmitgliedern, dort die Wandergruppe einmal im Monat, den Feierabendplausch. Das alles bleibt vollkommen unberührt von weltbewegenden Ereignissen.

Für den Soziologen Hartmut Rosa sind Resonanzerlebnisse die Essenz des Lebens. Nicht unbedingt die Weltreise oder die teure Anschaffung erzeugen Lebensqualität, sondern die kleinen intensiven Erlebnisse. Für einen Moment ist man in Übereinstimmung mit seiner Umwelt. Resonanzerlebnisse holt man sich über die kleinen Fluchten aus den Anforderungen das Alltags. Beim Musikhören, bei einem Glas Wein, bei einer Lektüre, beim Dösen. Diese kleinen Freuden haben keine Abhängigkeit zum großen Weltenlauf. Sie bedürfen keiner besonderen Voraussetzungen und sind deshalb maximal stabil. Sie sind klein und leicht und passen in jeden Tag. Das bewusste Erleben schöner Alltagsmomente, die bewusste Pflege von Ritualen, das Erkennen des Großartigen im Kleinen, das Aufrechterhalten sozialer Kontakte ist kein geringfügiger Faktor für den Erhalt der eigenen Lebensstabilität.

Der Philosoph Konrad Stadler berät seit über 25 Jahren internationale Konzerne und mittelständische Unternehmen bei Veränderungsprozessen. Er ist Vortragsredner und Trainer zu den Themen Führung und Kulturwandel. 
Info: https://www.stadler-schott.de

Dynamische Stabilität

Stabilität ist kein statischer Zustand, sondern äußerst dynamisch. Sie ist das Ergebnis eines offenen Ringens mit den Fragen des Lebens. In der benediktinischen Klosterregel zählt die Stabilität zu einem zentralen Wert. Sie kommt in der »stabilitas loci« zum Ausdruck. Die Mönche geloben den lebenslangen Verbleib an einem Ort. Der Kerngedanke dieser Lebensweise richtet sich darauf, von den Themen und Problemen des Lebens nicht davonzulaufen, sondern sich der Auseinandersetzung zu stellen. Nicht die Abgeschiedenheit nährt die stabilitas, sondern Aufgeschlossenheit und Offenheit. Diese Dynamik kann jede*r auf sein eigenes Leben übertragen. Es geht um die Auseinandersetzung mit den Anforderungen des Lebens. Berufliche Anforderungen, gesellschaftliche Ereignisse, existentielle Bedrohungen – dynamische Stabilität bedeutet, der Unsicherheit und der Angst keine Macht zu geben.

Man muss dazu kein kontemplatives Leben führen. Man muss sich nur einmal über den Zusammenhang von Unsicherheit und innerer Stabilität bewusst werden. Dann ist zu erleben, dass man nicht so schnell untergeht, sondern bei der Überwindung der Unsicherheit Kräfte mobilisiert.

Sich einlassen

Wenn ich weniger oder langsamer Auto fahren soll, Strom und Gas einsparen soll, meine Amerikareise umplanen muss – sind das Gründe, um unglücklich zu sein? Doch nur, wenn ich mich an diese Annehmlichkeiten klammere und mein Lebensglück davon abhängig mache. Im Buddhismus gilt das Festhalten an Dingen und Gedanken als die größte Quelle des Unglücks. Wer an seinen Vorstellungen von der Welt anhaftet, tut sich schwer, etwas so zu nehmen, wie es ist. Er wird starr und verliert die Fähigkeit, dem Leben seinen Lauf zu lassen und dabei etwas Neues zu entdecken. Der Sturm der Veränderung reißt etwas ein, es entsteht aber auch etwas. Ein ratsamer Umgang mit dem Wandel besteht darin, sich darauf einzulassen und die Veränderungen in sein Leben zu integrieren.

Der Psychotherapeut Alfried Längle hat drei Lebensstrategien für ein gesundes und sinnvolles Leben erkannt. Erstens die Fähigkeit, das Schöne zu genießen. Darin eingeschlossen sind alle geistigen, materiellen und körperlichen Freuden. Zweitens das aktive Gestalten desjenigen, was man selbst bewegen kann, das Setzen und beharrliche Verfolgen von Zielen, beruflich ebenso wie privat. Drittens das Akzeptieren desjenigen, was sich dem eigenen Zugriff entzieht. Längle geht hier noch einen Schritt weiter. Er spricht davon, sich verändern zu lassen an einer Stelle, an der es ganz anders kommt als man es wollte.

Letzteres scheint schwierig. Irgendetwas wehrt sich gegen den Gedanken, sich verändern zu lassen. Aber warum eigentlich nicht? Bin ich perfekt? Sollen meine Anschauungen unveränderlich sein? Sich vom Leben nicht nur belehren, sondern sich förmlich mitreißen zu lassen, hat etwas sehr Lebendiges. Dies wäre ein sehr kluger Umgang mit dem Wandel, weil er immer Bestand hat.

(Bilder: iStock, businessvillage)


Buchtipp

Konrad Stadler: Veränderungsbewusstsein. Eine Anleitung zum neuen Umgang mit dem Wandel
Verlag BusinessVillage 2021
ISBN: 978-3-86980-596-2

 

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