Dienstag, November 19, 2024

Eine kürzlich veröffentlichte Prognose des Wirtschaftsforschungsinstituts über die Pensionskosten entfachte eine heftige Debatte: Liegen die erforderlichen Bundesmittel, die der Staat jährlich zu den Versicherungsbeiträgen der Beschäftigten in die gesetzliche Pensionsversicherung zuschießt, mit 12,8 Milliarden Euro heuer noch auf dem Niveau von 2015, kündigt sich nämlich für die kommenden fünf Jahre ein Sprung auf 21,2 Milliarden Euro (3,76 Prozent des BIP) an. Schon ein Jahr länger zu arbeiten, würde jedoch das Pensionssystem entlasten und – je nach Beruf und Erwerbseinkommen – die Erstpension pro Monat um 100 bis 200 Euro erhöhen. Eine Win-win-Situation?

1. Kippt das Pensionssystem?

Barbara Blaha
Leiterin des Momentum Instituts

Kippen tut nichts. Unser staatliches Pensionssystem ist langfristig solide finanziert und verhindert gleichzeitig viel Altersarmut. Weil im nächsten Jahrzehnt aber die zahlenstarke Babyboomer-Generation in Pension geht, steigen die Auszahlungen für Pensionen leicht an, um etwas mehr als ein Hundertstel der jährlichen Wirtschaftsleistung. Das kann der Staat aus dem Budget zuschießen. Dafür sollte er aber auf unnötige Steuersenkungen wie jetzt bei den Gewinnsteuern für Unternehmen verzichten.

Bernd Marin
Direktor des European Bureau for Policy Consulting and Social Research

Ob das Pensionssystem »kippt« oder nicht, und wenn, wann es »kippen« könnte, hängt naturgemäß von den Operationalisierungen und Messungen der Kipppunkte ab. In gewisser Weise ist es schon gekippt, ein bisschen wie in dem ökologischen »Fünf vor Zwölf«-Nachhaltigkeitswitz: Ein Mann inmitten atemberaubender alpiner Prachtlandschaft sagt besorgt zu seiner Partnerin: »Die Gletscher schmelzen. Die Antarktis zerbricht. Die Klimakatastrophe naht. Es ist jetzt fünf vor Zwölf.« Worauf sie trocken entgegnet: »Fünf vor Eins. Wir haben Sommerzeit.« Die Zeitumstellung und Zeitenwende waren dem Mann entgangen.

So markieren nicht erst Hyperinflation, Staatsbankrott und Währungsreform einen Systemkollaps, schon chronische strukturelle Defizite und Unterfinanzierung, ein jährlich wachsendes »Pensionsloch« in der Höhe eines Drittels aller Leistungszusagen (!) sind bereits weit jenseits nachhaltiger Gleichgewichts- und Stabilitätserfordernisse.

Ingrid Korosec
Präsidentin des Österreichischen Seniorenbundes

Laut Gutachten der Alterssicherungskommission kommt es in den nächsten zehn Jahren vor allem durch die Babyboomer-Generation zu einem Anstieg der Pensionskosten. Bis 2070 sinken die Ausgaben prozentuell am BIP gemessen wieder auf heutiges Niveau (+ 0,4 %) – vorausgesetzt, wir haben eine stabile Wirtschaftslage. Der Auftrag ist klar: Wir brauchen dringend Reformen, damit Menschen länger gesund arbeiten können und wollen. Viele »neue Alte« sind bereit, weiterzuarbeiten, sich in die Gesellschaft einzubringen, aber zu flexiblen, fairen und attraktiven Rahmenbedingungen. Daher brauchen wir neue altersgerechte Konzepte, damit jeder, der arbeiten will, auch arbeiten kann.

2. Sollte das gesetzliche Pensionsalter angehoben werden?

Barbara Blaha: Nein, das wäre einfach eine Pensionskürzung, solange es nicht dauerhaft ausreichend Arbeitsplätze für jene Menschen gibt, die sich dem Pensionsalter annähern. Immer noch geht jede zweite Frau nicht aus ihrem Beruf in Pension, sondern etwa aus der Arbeitslosigkeit – mit einer entsprechend niedrigen Pension. Auch viele Männer werden von Betrieben ignoriert und abgelehnt, sobald sie 55 Jahre und darüber sind. Zunächst müssen die Betriebe umdenken, und altersgerechte Arbeitsstellen anbieten.

Bernd Marin: Selbstverständlich ja, schon längst, wie ausnahmslos alle Fachleute wissen. Die Leugnung gehört zu den wissenschaftlich einmütig und bestwiderlegten, selbstzerstörerischen Dogmen wohlfühlpopulistischer Pensionsschwurbler, vorab von Politikern und Verbandsfunktionären aller Massenorganisationen und Volksparteien hierzulande. Das vermeintlich pragmatische Kompromissangebot »zuerst Angleichung des faktischen an das gesetzliche und dann erst Erhöhung des gesetzlichen Pensionsalters« ist blanker Unsinn, aber das billigste und daher populärste Dumpfbackenargument für praktisches Nichtstun.

Ingrid Korosec: Nicht solange der faktische nicht an den gesetzlichen Pensionsantritt angepasst ist. Männer gehen im Durchschnitt vier Jahre zu früh in Pension. Jedes Jahr würde die Pensionsausgaben um 2,8 Milliarden Euro verringern. Bei den Frauen führt eine schrittweise Anhebung des gesetzlichen Pensionsantrittsalters dazu, dass bis 2033 für alle – wie bei den Männern – 65 Jahre gilt! Bei den Frauen stimmt zwar der faktische Pensionsantritt, aber nur jede zweite wechselt aus der aktiven Beschäftigung in den Ruhestand. Daher brauchen wir Maßnahmen mit mehr Gesundheitsprävention und flexibleren Arbeitsmodellen.

3. Funktioniert der Generationenvertrag noch?

Barbara Blaha: Bei staatlichen Pensionen funktioniert er. Heute noch Junge werden später eine Pension bekommen. Was aber wackelt: Der Gesellschaftsvertrag innerhalb der Generationen. Die erste Nachkriegsgeneration scheidet aus dem Leben, die sich etwas aufbauen konnte. Damit spaltet sich die Gesellschaft in Arm und Reich. Die einen erben viel von reichen Eltern. Die anderen nichts, rackern sich ab, können sich gefühlt wenig leisten. Wer die Schere schließen will, kommt um eine Erbschafts- und Vermögensteuer nicht herum.

Bernd Marin: Einerseits ja, klar, er funktioniert immer irgendwie und wird das mit Sicherheit auch in Zukunft tun: Es wird immer irgendwelche »Pensionen« geben. Andererseits nein: Die reale Kaufkraft hinter den Rechtsansprüchen ist ungewiss und unsicher – ebenso wie das Ausmaß der Schieflagen zwischen den Jahrgängen zu Lasten der jungen, nachwachsenden Generationen.

Ingrid Korosec: Alt und Jung können die Zukunft nur gemeinsam meistern. Die Älteren denken bei ihren Entscheidungen an die Jugend und sind bereit, Einschränkungen in Kauf zu nehmen, etwa beim Klimaschutz. Mein Appell an die Jugend: früher Gedanken über die Pension machen und vorsorgen. Denn Pensionen sind Versicherungsleistungen, die man sich selbst erarbeiten muss, das gilt für Alt und Jung. Der immer spätere Einstieg ins Berufsleben, eine veränderte Sichtweise auf Arbeit und die »Teilzeitfalle« wirken sich negativ auf die eigene Pension und das Pensionssystem aus. Das muss stärker bewusst sein.

(Bilder: iStock, Ingo Petramer, European Bureau for Policy Consulting and Social Research, Bubu Dujmic)

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