Das Geschäft mit der virtuellen Welt kommt langsam in Schwung. Horst Orsolits, Leiter des Kompetenzfeldes Virtual Technologies & Sensor Systems an der FH Technikum Wien, sieht noch einigen Verbesserungsbedarf, aber auch interessante Anwendungsgebiete für Unternehmen.
(+) plus: Viele Jahre waren AR- und VR-Anwendungen auf den Gaming-Bereich beschränkt. Warum interessiert sich zunehmend auch die Industrie dafür?
Horst Orsolits: Dafür gibt es viele Gründe. Einerseits haben die Technologien ein gewisses Reifestadium und somit ein akzeptables Preis-Leistungs-Verhältnis erreicht, andererseits belegen Studien, dass man durch den Einsatz der Technologien Zeit und Kosten deutlich reduzieren kann. In den letzten beiden Jahren waren die eingeschränkten Möglichkeiten für Reisen sicher ebenfalls ein Beschleuniger. Einige Automobilhersteller führen Meetings und Workshops in der Entwicklung und Fertigung mittels Virtual Reality durch. Mitarbeiter*innen an verschiedenen Standorten treffen sich im virtuellen Raum und führen dort Schulungen durch.
(+) plus: Hat sich mit den Verbesserungen der Hardware und erschwinglicheren Preisen auch der Kreis potenzieller Zielgruppen geöffnet?
Orsolits: Technisch ist man noch nicht so weit. Am Markt sind drei oder vier Hersteller präsent, die die Speerspitze abbilden, aber nach wie vor eine große und klobige Brille anbieten, die als Einschränkung wahrgenommen wird. Für Virtual Reality ist volle Immersion eine Grundvoraussetzung – das funktioniert eben nur, wenn das Sichtfeld zur Gänze abgedeckt ist. Bei Mixed Reality ist die Sache noch komplizierter – man ist entweder an das Mobiltelefon gebunden oder an eine Datenbrille, die aber deutlich teurer ist. Die Möglichkeiten für den Einsatz überzeugen jedoch.
(+) plus: Wann wird die Technologie massentauglich?
Orsolits: Drei bis fünf Jahre wird es schon noch dauern, bis man mit einer komfortablen Brille, die halbwegs erschwinglich ist, zumindest Augmented Reality anwenden kann. Ob die Entwicklung noch weiter geht, wird auch von der Qualität der Anwendungen abhängen. Mittels Mixed Reality wäre es möglich, digitale Inhalte in die reale Umgebung einzufügen. Ich könnte zum Beispiel die Zugabfahrten in meine Brille eingeblendet bekommen, wenn die Sensorik automatisch erkennt, dass ich mich am Hauptbahnhof befinde. Im nächsten Schritt wäre denkbar, dass die Brille erkennt, wo ich im Gebäude bin und mir den kürzesten Weg zum Bahnsteig einblendet. Bis dahin wird aber noch viel Wasser die Donau hinunterfließen.
(+) plus: Welche Anwendungsbereiche sehen Sie bereits in Unternehmen?
Orsolits: Ein wichtiger Bereich ist die Aus- und Weiterbildung, etwa bei Industrieapplikationen: Ein Automobilhersteller präsentiert den Mitarbeiter*innen in der Fertigung den neuen Motor. Auch virtuelle Meetings erreichen bald die nächste Stufe: Accenture hat 60.000 Brillen in Auftrag gegeben, um für das Onboarding gerüstet zu sein. Neue Mitarbeiter*innen bekommen eine Brille nach Hause geschickt und werden vom HR-Management virtuell durchs Unternehmen geführt, sie lernen Kolleg*innen und Unternehmensprozesse kennen.
Ein zweites Anwendungsgebiet ist die kollaborative Entwicklung von Produkten und Produktionssystemen. Die unterschiedlichen Fachleute sind oft über den ganzen Globus verstreut und treffen sich in einem virtuellen Raum, um gemeinsam effizienter, schneller und kostengünstiger entwickeln zu können. Der Vorteil: Sie können zur gleichen Zeit am gleichen digitalen 3D-Modell arbeiten und müssen keine Daten hin- und herschicken. Auch bei Wartungsaktivitäten sind immer häufiger Datenbrillen im Einsatz, weil die Fachexpertise nicht am jeweiligen Standort verfügbar ist. Der Spezialist kann sich über die Brille einblenden und den Mitarbeiter vor Ort anleiten.
(+) plus: Werden Mitarbeiter*innen dadurch flexibler einsetzbar?
Orsolits: Das ist definitiv ein großer Motivator für Unternehmen. Ich weiß von Sondermaschinenbau-Unternehmen und Zulieferern in Österreich, die mit digitalen Assistenzsystemen arbeiten, um kleine Stückzahlen erreichen zu können. Da fahren unterschiedlichste Baugruppen über das Förderband, die sich alle zwei Stunden ändern. Bisher war das sehr schwierig, weil die Arbeitsprozesse immer umgestellt werden mussten. Die Beschäftigten bauen nicht den ganzen Tag das gleiche Stück zusammen, sondern über den Tag verteilt 20 verschiedene. Wenn die Anweisungen eingeblendet werden, braucht man keine spezielle Schulung.
(+) plus: Wo besteht noch Verbesserungsbedarf?
Orsolits: Die Qualität und der Komfort der Brillen sind nach wie vor die größten Hindernisse. Den ganzen Tag kann und will man derzeit auch nicht damit arbeiten. Hier wird noch viel Entwicklungsarbeit passieren, davon bin ich überzeugt. Was ebenfalls kommen wird, ist eine einheitliche Datenbasis oder eine Schnittstelle für digitale Inhalte.
Der Begriff »Metaverse« ist derzeit in aller Munde – bei der Entwicklung virtueller Welten experimentiert aber noch jeder in seinem eigenen Ökosystem. Es gibt ein Rennen um die meisten User. Welches System sich tatsächlich durchsetzt, wird noch spannend. Es könnte auch zu einer Koexistenz kommen, wie am Mobiltelefonmarkt mit Apple und Android. Damit könnten durchaus neue Dimensionen des täglichen Lebens erreicht werden. Es wäre zum Beispiel möglich, dass man am Abend über die Hologramm-Brille die besten Freunde neben sich sitzen sieht, egal wo sie gerade sind. Wenn die Technologie im Consumer-Bereich bleibt, wird sie Bestand haben, aber sich nicht im Alltag durchsetzen.
(+) plus: Die großen Konzerne bringen sich bereits in Stellung. Wohin entwickelt sich der Markt?
Orsolits: Es herrscht gerade Goldgräberstimmung. Das ist sehr trügerisch. Wir haben in den letzten beiden Jahren halbwegs gelernt, mit Videotelefonie umzugehen. Wenn man aber sieht, wie lange es manchmal dauert, bis Meetings endlich starten, weil eine Kamera oder der Ton nicht funktioniert, habe ich Zweifel, ob der nächste Schritt in Richtung Virtual Reality so leicht wird. Um eine Breitenwirkung zu erzielen, müssen die technischen Hürden noch deutlich niedriger werden.
Es ist jedenfalls viel Geld in Bewegung. Adidas entwickelt bereits eigene Kollektionen für digitale Avatare. Das digitale Abbild in der virtuellen Welt soll möglichst fancy aussehen – ich bin nicht sicher, ob solche Kollektionen in ein, zwei Jahren noch immer so viel Aufsehen erregen. Am Spielemarkt zeigt Fortnite vor, dass es ganz gut funktionieren könnte, und hat sich sogar mit Apple angelegt.
(+) plus: Wie sieht Ihr Zukunftsszenario aus? Werden wir mit VR-Brillen arbeiten und in einer Parallelwelt unsere Freizeit verbringen?
Orsolits: Der Schlüssel dazu wird in der Hardware liegen. Über Video treffen sich jetzt schon Familien zum Abendessen. Wenn die technischen Versprechen eingelöst sind, glaube ich schon, dass wir einen Teil unserer Zeit in virtuellen Umgebungen verbringen werden. Der virtuelle Unterricht bietet vielfältige Möglichkeiten, z. B. können wir komplexe Sachverhalte an einem CAD-Modell angreifbar darstellen und Fabriksabläufe durchspielen. Man wird sich auch im privaten Bereich virtuell treffen, etwa zum Tischtennisspielen oder Kegeln. Wir sind aber sehr soziale Wesen. Die virtuelle Welt wird eine Ergänzung sein, den persönlichen Kontakt kann sie nie ersetzen.
(+) plus: War Google Glass ihrer Zeit voraus?
Orsolits: Google Glass war technisch nicht ausgereift, wurde aber bereits als Consumer Device auf den Markt gebracht. Die gesellschaftliche Dimension hat Google sicher unterschätzt. Plötzlich saßen Leute mit einer Brille im Restaurant, deren Kamera mutmaßlich permanent eingeschaltet war. Sogar in den USA kamen da Datenschutzbedenken auf.
(+) plus: Wird eine Brille das Smartphone ersetzen?
Orsolits: Es gibt Patente von Apple, die das vermuten lassen. Es dürfte sich um eine sehr leichte Brille handeln, die in das Apple-Ökosystem integriert ist – kombiniert mit den Earpods als Sensor, der die Kopfbewegungen registriert, mit der Apple-Watch für die Eingabe und mit dem iPhone, das die Rechenleistung liefert. Wenn das gelingt, kann viel passieren. Vor einer digitalen Zwischenwelt, in der auf Billboards an jeder Hausecke digitale Werbung eingeblendet wird, graut mir allerdings.
Zur Person
Horst Orsolits schloss 2011 das Masterstudium Mechatronik/Robotik an der FH Technikum Wien mit Auszeichnung ab. Nach Tätigkeit in verschiedenen Unternehmen mit Schwerpunkt Produktentwicklung mechatronischer Systeme kam er 2017 als stellvertretender Studiengangsleiter zurück in die Fakultät Industrial Engineering an der FH Technikum Wien. Seit 2018 leitet er das Kompetenzfeld Virtual Technologies & Sensor Systems.
Gemeinsam mit Maximilian Lackner veröffentlichte er im Verlag Springer-Gabler das Buch »Virtual Reality und Augmented Reality in der Digitalen Produktion«.
ISBN: 978-3-658-29008-5