Donnerstag, April 25, 2024
»Sorgen verstehen - Lösungen anbieten«
Foto: Digitalisierungsprojekte gelingen besser, wenn alle Beteiligten von Anfang an eingebunden werden. Es braucht klare Vorgaben und intensiven Dialog, sind sich Hans Aubauer (SVS) und Reto Pazderka (adesso) einig. Das Gespräch moderierte Martin Szelgrad (re.). (Bild: Report Verlag/Milena Krobath)

Hans Aubauer, Generaldirektor Sozialversicherungsanstalt der Selbstständigen, und Reto Pazderka, Geschäftsführer des IT-Dienstleisters adesso Austria, im Gespräch über die Herausforderung von Serviceorganisationen in Krisenzeiten und was die Digitalisierung für uns Menschen und die soziale Sicherheit tun kann.

(+) plus: Vor welchen Herausforderungen stand die SVS in den vergangenen Monaten – organisatorisch und auch technisch?

Hans Aubauer, SVS: Die SVS ist eine sehr junge Organisation, die mit 1. Jänner 2020 aus zwei großen Einheiten entstanden ist (Anm. SVA – Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft und SVB – Sozialversicherungsanstalt der Bauern). Eine Fusion, die zu einem Stichtag organisatorisch und technisch vollzogen wird, ist sicherlich nicht trivial. Für uns war es ein Marathon in Sprintgeschwindigkeit, den wir erfolgreich bestanden haben – mit der Betriebsfähigkeit und Öffnung aller Kundencenter am ersten Arbeitstag am 2. Jänner. Wir hatten im ersten Quartal 2020 dann auch einen großen Nachfragebedarf in der Telefonie verspürt. Es gab enormes Interesse an der SVS und wir sind froh, dass wir durch die Zeit Anfang 2020 gut, stabil und mit einem hochmotivierten Team gekommen sind. Mit den Geschehnissen der Pandemie sind wir dann etwas unerwartet in die wohl größte Bewährungsprobe unserer Digitalisierungsreise gekommen.

Für uns als systemrelevante Organisation der Republik, die sich der sozialen Sicherheit in allen Dimensionen der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung verschrieben hat, war die Krise eine Riesenherausforderung. Wurden doch etwa die Umsatzprognosen der Unternehmer*innen, die normalerweise ein, zwei Jahre nach vorne gerichtet sind, innerhalb von Stunden revidiert. Wir haben mit größter Energie daran gearbeitet, für unsere Versicherten – insgesamt 1,2 Millionen Menschen – erreichbar zu sein und diese zu unterstützen.

Die durch die Pandemie massiv gestiegene Zahl der Interaktionen in der Kundenbetreuung haben wir trotz Home­office auch bei der SVS durch viel persönlichen Einsatz bewältigen können, aber auch durch die Werkzeuge der Digitalisierung. Ohne die Schritte in den Jahren davor – unsere aktuelle Digitalisierungsreise hat im Jahr 2015 begonnen – wäre das schwierig gewesen. Nach dem ersten Jahr der Pandemie können wir sagen: Wir haben diese Feuertaufe der Digitalisierung bestanden – wohl in einer größeren Härte, als wir uns das in Tests je vorgenommen hätten.

(+) plus: Wo hat die Digitalisierung in der Pandemie im Servicebereich der SVS konkret geholfen? Können Sie ein Beispiel geben?

Aubauer: Es gibt mehrere Beispiele, um die Wechselwirkung zwischen digitalen und persönlichen Services zu zeigen. So hatten wir bereits technische Fähigkeiten im Kommunikationskanal Telefonie aufgebaut, um Anrufende und Anliegen zu erkennen und gezielt Informationen unseren Sachbearbeiter*innen bereitzustellen. Dazu wurde auch in Wissensmanagementsysteme investiert, in ein betriebliches »Gehirn«, was gerade in größeren Organisationen stets eine Herausforderung ist. Die SVS muss stark in Rechts- und Paragraphenelementen denken, hat andererseits aber die Lebenssituationen ihrer Kund*innen im Fokus – das muss in Sekundenschnelle auch am Telefon verknüpft werden können. Hier haben wir über Suchalgorithmen und das Bereitstellen von Information über digitale Werkzeuge die Handlungsfähigkeit und Treffsicherheit für unsere Teams und damit auch das Servicegefühl gegenüber unseren Kund*innen deutlich verbessert.

Bei Spitzenwerten von 55.000 Anrufen in der Woche wollen wir künftig allfällige Wartezeiten zu einer Wertezeit formen, indem den Anrufenden schrittweise Informationen bereitgestellt werden. Was es bereits heute gibt, ist ein Rückrufservice, der sehr gut angenommen wird. Und ein Feedbacksystem liefert zu all diesen Services bereits Bestwerte, wenngleich wir immer noch besser werden können und uns weiterentwickeln wollen.

Bei den zentralen Fragestellungen der Beitragsüberlegungen, der Herabsetzung, Stundungen und Ratenvereinbarungen – allesamt finanzielle Themen mit Einfluss auf die soziale Sicherheit der Menschen – haben wir mit individuellen digitalen Lösungen die Möglichkeit geschaffen, Justierungen eigenständig vorzunehmen. Dieser Service ist rund um die Uhr und an jedem Tag der Woche verfügbar. Wir haben so in der persönlichen Beratung mehr Zeit für komplexere Fälle und haben während der Pandemie auf ein flächendeckendes Terminsystem umgestellt – das wir auch beibehalten werden. Dadurch fallen die Wartezeiten in den Kundencentern weitgehend weg. Am Standort Wien hatten wir zu Spitzenzeiten bis zu 180 Kund*innen, die auf eine Interaktionsmöglichkeit mit uns gewartet hatten. Das ist für niemanden angenehm, höchstens für die Kaffeehausbetreiber der Umgebung.

Nun gibt es eine deutlich bessere Kanalisierung und ein Termin formalisiert auch ein bisschen: Man überlegt sich sein Anliegen präziser und bereitet sich besser vor. Hier validieren wir mit digitalen Werkzeugen laufend alle unsere Interaktionspunkte. Muss man als Selbstständige oder als Selbstständiger das Wertvollste einsetzen, das man hat – Zeit –, oder kann ein alternativ zu Verfügung stehender Service genutzt werden? Salopp formuliert: Um nur einen Zettel abzugeben, muss man heute nicht mehr persönlich vorbeikommen. Trotzdem halten wir weiterhin allen die Tür auf, die zu uns kommen wollen.

(+) plus: Wo kann die Digitalisierung in Organisationen an der Schnittstelle zu den Kund*innen helfen? Wie ist hier die Erfahrung bei IT-Dienstleistern?

Reto Pazderka, adesso: Gerade in der Pandemie hat sich gezeigt, dass Unternehmen mit einer Digitalisierungsstrategie generell flexibler bei Veränderungen agieren können – wenn man diese bereits vorher hatte. adesso ist seit Jahren Projektpartner von Unternehmen wie der Niederösterreichischen Versicherung, für die der Vertrieb mit einer App und digitalisierten Prozessen neu aufgestellt wurde. Das Vertriebsteam wurde damit auch örtlich – von der physischen Präsenz in der Firmenzentrale – unabhängiger und es eröffneten sich neue Geschäftsmöglichkeiten, die waren in den vergangenen Monaten besonders wichtig.

Ein weiteres Projekt von adesso hatte die Digitalisierung des Rechnungseingangs und Prozessoptimierungen für die Gemeinnützige Bau- und Wohngenossenschaft Wien-Süd zum Inhalt. Bei allen diesen Projekten war der Kundennutzen immer im Vordergrund – dieser ist in der Pandemie dann noch evidenter geworden. Wir hatten auch Ausnahmeprojekte für kritische IT-Infrastrukturen wie etwa »Hippo« und »Elefant« für das Land Steiermark. Wir entwickelten Software für eine zentrale Impfplattform und unterstützten die Verwaltungsprozesse für die epidemiologische Datenerfassung im Land Steiermark mittels IT.

Nach einer Phase der Unsicherheit im März und April 2020 wurde auch für uns als IT-Dienstleister klar, dass die Pandemie zwar die Arbeit in den IT-Abteilungen nicht stoppt, aber es erschlossen sich auch nicht massenhaft neue Digitalisierungsprojekte. Denn die Projekte setzt man nicht von heute auf morgen um. Digitalisierung braucht Vorbereitung, Analysen und entsprechende Planung. Für so etwas hat man in einer
Krisensituation, in der es darum geht, Monat für Monat zu überstehen, oft keine Zeit. Nun sehen wir, dass die Unternehmen aus den letzten Monaten gelernt haben und wieder überlegen, Ressourcen für neue Entwicklungsprojekte bereitzustellen. Ich rechne wieder mit größeren Digitalisierungsvorhaben am Markt.

(+) plus: In welchen weiteren Bereichen wird die Digitalisierung den Arbeitsplatz und auch Unternehmensservices verändern? Was sind Ihre Erwartungen?
Pazderka: Technologien verbessern auch die Vertriebsarbeit in Organisationen. Hier können bereits Lösungen mit künstlicher Intelligenz bei der Recherche unterstützen und Vertriebschancen, sprich »Leads«, finden. Neuere Entwicklungen wie diese wurden durch die Krise etwas verzögert, werden aber in den Unternehmen nun wieder fortgesetzt.

Wir haben mit unseren Projekten in der Steiermark und in Folge auch für das Land Kärnten gesehen, was die IT in einer Krisensituation im Behördenumfeld leisten kann. Die Unterstützung der Prozesse für die Verwaltung der Corona-Fälle, des gesamten Contact-Tracings und die Einbindung in die landeseigenen Abläufe wurden gemeinsam mit den IT-Abteilungen der Länder mitunter in Zwei-Tages-Sprints umgesetzt. Wenn an einem Tag Verordnungstexte analysiert wurden, mussten diese 48 Stunden später in Software gegossen sein. Von einer langen Vorbereitung war da keine Spur. Aber auch das kann die Digitalisierung: Lösungen aus dem Boden stampfen, um Krisen zu bewältigen.

Aubauer: Ich kann das bestätigen und blicke hier auch mit Stolz und Respekt darauf, was in den vorherigen Jahren in unserem Haus geleistet worden ist. Die SVS hat in den vergangenen eineinhalb Jahren die Auswirkungen der Pandemie bekämpft, hat aber gleichzeitig strategische Vorhaben und Digitalisierungsaktivitäten links und rechts davon in den Prioritäten neu geordnet, aber nicht zurückgefahren. Wir haben dadurch an vielen Stellen rasch reagieren können. In den vergangenen Monaten gab es einen kräftigen Leistungsschub auf der Ebene der Kundenservices.

Unsere Chatbot-Interaktionen und die Download-Raten in den App-Stores sind kräftig nach oben gegangen. Gleichzeitig entwickeln wir Projekte auch in der fachlichen Breite weiter. Wir wollen mit Digitalisierung die nächsten Level erreichen: in der Gesundheitsvorsorge, der Rehabilitation und Medizin. Der digitale Abwicklungsprozess rund um den »Sicherheitshunderter« ist ein Beispiel, bei dem Kurse und Ausbildungsmöglichkeiten wie etwa Motorsägen-Trainings und Fahrsicherheits-Trainings gebucht werden können.

(+) plus: Wie sollten Digitalisierungsprojekte in Organisationen eingeführt werden, sodass Mitarbeiter*innen diese gerne annehmen und wertschätzen?

Pazderka: Ich war vor Jahrzehnten bereits in Kern-IT-Projekten im Bankenbereich tätig und habe dort Einführungsprojekte und die Anstrengungen, alle Beteiligten für eine Umstellung zu gewinnen, kennengelernt. Die besten Erfahrungen wurden stets damit gemacht, die »Stakeholder« mit ihren Themen bereits sehr früh abzuholen und einzubinden – am besten schon in der Beratungsphase und der Konzeptionierung der Lösung. Auch bei der Arbeit an der Vertriebs-App der Niederösterreichischen Versicherung waren Mitarbeiter*innen von Anfang an eingebunden – sowohl in der Gestaltung der Prozesse als auch des Applikationsdesigns. Gleiches haben wir bei der Digitalisierung des Posteingangs unternommen, indem der Buchhaltungsabteilung bereits in der Planungsphase Aussehen und Funktionalität der möglichen Ergebnisse gezeigt wurden.

Ich kann nur jedem raten, das zu tun. Man wird in Projekten sicherlich nicht100 % des jeweiligen Teams einbinden können, aber in einer Organisation können auch in Zusammenarbeit mit externen Partnern wie uns, die Anliegen der Anwender*innen – dazu gehören mitunter auch die Kund*innen – und Projektziele in Einklang gebracht werden. Ich habe noch kein Digitalisierungsprojekt scheitern gesehen, das eine gute Einführung hatte.

Aubauer: Ich bin überzeugt, dass gerade in einer Linienstruktur eine Veränderungsfähigkeit direkt vom Management etabliert werden muss. So etwas muss erlernt und auch trainiert werden, denn Veränderung ist immer kraftintensiv. Sie braucht klare Vorgaben, aber auch die Einbindung und den intensiven Dialog in der Organisation. Bei der SVS sind es aktuell unterschiedlichste Tangenten, die Veränderungen notwendig machen und diese erzwingen – die aber auch ein breites Spektrum an neuen Chancen bieten. Die Pandemie hat genau das gezeigt – mit den rasch umgesetzten Erleichterungen in den Bewilligungsprozessen oder mit der Künstlerförderung durch das Staatssekretariat.

Letzteres hat für uns einen völlig neuen Prozess bedeutet. Anspruchsberechtigte haben innerhalb von vier Tagen ihre Auszahlungen erhalten.
Die Digitalisierung wird uns auch bei den laufenden räumlichen Veränderungen von Arbeitsorten und Arbeitsumgebungen unterstützen, ebenso wie bei der Automatisierung unseres Leistungsspektrums. Ein Treiber für Veränderungen ist die schrittweise Verlagerung und Ergänzung von menschlicher Expertenberatung mit den technischen Möglichkeiten etwa mit KI. Bei all diesen Entwicklungen bleibt unser Fokus auf Beratung und Service erhalten: die Sorgen unserer Kund*innen gerade in Krisenzeiten zu verstehen und individuelle Lösungen anbieten.

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