Freitag, November 29, 2024
Der Blick durch die Brille

Virtual und Augmented Reality werden zunehmend auch in der Arbeitswelt eingesetzt. ArbeitsmedizinerInnen prüfen mögliche Gesundheitsrisiken.

Die Corona-Pandemie verbannte weltweit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ins Homeoffice – mit den bekannten Vor- und Nachteilen. Die Schweizer Großbank UBS verfolgt einen interessanten Weg, um ihren WertpapierhändlerInnen das Gefühl ihres gewohnten Arbeitsplatzes zurückzubringen. Eine Taskforce prüft den Einsatz von Google Hololens-Geräten, die etwas Börsenfeeling in die Wohnzimmer bringen sollen.

In einem Interview mit der Financial Times begründete Beatriz Martin, Chefin der UBS Großbritannien, die Strategie: »Wenn die Leute wirklich nicht ins Büro kommen können, können wir dann eine virtuelle Präsenz schaffen?« Eine zuvor getestete Variante, die Trader mit Bildschirmen auszustatten, auf denen in Live-Feeds ihre BürokollegInnen zu sehen sind, wurde wieder ad acta gelegt – das erhoffte Gemeinschaftsgefühl hatte sich nicht eingestellt.

Die US-Bank Citigroup testete das virtuelle Büro schon vor vier Jahren. Eine eigens konzipierte »Holographic Workstation« kombinierte 3D-Hologramme mit Echtzeit-Finanzdaten. Konzipiert wurde das System für Großkunden, die von ihrem Trader während des Gesprächs zur Veranschaulichung Grafiken und Tabellen ins Büro projiziert bekamen. Das Projekt scheiterte jedoch an den damaligen Unzulänglichkeiten der Technologie wie den klobigen Headsets und der begrenzten Rechenleistung.

Trotzdem gibt die Workstation einen Eindruck, wie das Büro der Zukunft aussehen und funktionieren könnte. Bisher kommen Augmented und Virtual Reality vorwiegend in der Industrie zum Einsatz – vor allem in den Bereichen Konstruktion, Planung, Design und Ausbildung. In der Medizin und in der Wartung und Reparatur von Geräten erweisen Schritt-für Schritt-Anleitungen und andere parallel eingeblendete Informationen großen Nutzen. Ein komplett virtualisiertes Büro würde physische Büroräume völlig überflüssig machen.

Der Zugriff auf Datenbanken wäre nicht nur über den Computer möglich. »Mit unserem virtuellen System machen wir die Daten greifbar und ermöglichen, sie im Raum anzuordnen«, sagt der Informatiker Thies Pfeiffer, der im Exzellenzcluster CITEC der Universität Bielefeld, in Kooperation mit dem Softwarehersteller Ceyoniq Technology ein entsprechendes Verfahren entwickelte.

Stolperfallen

Die Interaktion erfolgt über Nicken, Augenbewegungen, Gesten oder Sprachbefehle. Trotz der hohen Anfangskosten lohnt sich die Investition in einigen Bereichen: Ein virtuelles Training ist dann sinnvoll, wenn das reale Training teuer, aufwendig oder gar gefährlich ist. Trifft einer dieser Punkte zu, können Unternehmen mit XR meist eine flexiblere Lösung entwickeln.

Die breitere Anwendung der Technologien ruft inzwischen auch ArbeitsmedizinerInnen und SicherheitsexpertInnen auf den Plan. In Österreich werden mögliche Gesundheitsrisiken von Augmented Reality derzeit im Rahmen eines gemeinsamen Projekts der Produktionsgewerkschaft PRO-GE, des Austrian Institute of Technology (AIT), des Industriekonzerns Magna, der AUVA und der Arbeiterkammer geprüft.

»Die erste Phase beschäftigt sich mit den arbeitspsychologischen Auswirkungen«, erklärt Sebastian Egger-Lampl, Nachrichtentechniker und Soziologe im AIT-Forschungsteam. »Die zweite Phase dreht sich um Sicherheitsaspekte, beispielsweise wenn ein Gegenstand vor einem am Boden liegt, während man die Brille trägt. In der dritten Phase wird untersucht, wie lange die Nackenmuskulatur durch das Tragen belastet werden kann.« Gemessen werden die Ermüdung der Muskulatur sowie die Work Experience.

Dauer beschränken

Über ein Kabel zu stolpern oder gegen einen Tisch zu stoßen, während man sich gerade mit der Brille vor Augen in anderen Welten bewegt, sind noch die geringsten, wenn auch nicht unwahrscheinlichsten, Gefahren. Dennoch entwarf der Berliner Büroausstatter System 180 bereits einen idealen Raum für virtuelle Arbeit, der den Aktionsradius mit unterschiedlichen Bodenbelägen auch haptisch kennzeichnet.

Bei VR-Anwendungen sind Irritationen der Wahrnehmung häufiger als bei Augmented Reality, wo die reale Umgebung sichtbar bleibt und nur zusätzliche Informationen in die Brille eingeblendet werden. Die VR-Krankheit »Motion Sickness« tritt auf, weil die vom Körper real empfundene Bewegung von der virtuell dargestellten Beschleunigung abweicht. Knapp zwei Drittel der NutzerInnen klagen über Schwindel und Übelkeit, ähnliche Symptome, wie sie bei Seekrankheit auftreten. In diesem Fall sollte die Session sofort unterbrochen und die Brille abgenommen werden.

Wie belastend AR- und VR-Brillen für die Augen sind, wird intensiv erforscht. Ein Problem besteht darin, dass sich die Augen längere Zeit auf ein sehr nahes Objekt fokussieren müssen. Augenärzte sprechen zudem vom sogenannten Vergenz-Akkomodationskonflikt, der eintritt, wenn das Auge eine dem Schieleffekt ähnliche Position einnimmt, damit sich der stereoskopische 3D-Effekt einstellt. Häufige VR-Nutzung könnte die Entstehung von Kurzsichtigkeit bewirken – diesbezügliche Untersuchungen laufen noch.

Einige Hersteller empfehlen generell, die Nutzungsdauer auf 30 bis 50 Minuten zu beschränken und danach mindestens 15 Minuten Pause zu machen. Bereits diagnostiziert wurde die schädigende Wirkung für Kinderaugen, weshalb Kinder unter 12 Jahren VR-Anwendungen nicht nutzen sollten.

Rechtliche Bedenken

Die in AR-Systemen eingeblendeten Arbeitsanleitungen sind hilfreich, um Abläufe effizienter und sicherer zu gestalten, indem Fehler automatisch erkannt und Lösungswege bereits vorgegeben werden. Gleichzeitig können die Informationen ablenken oder das Sichtfeld einschränken, wodurch das Unfallrisiko steigt.

AR- und VR-Systeme ermöglichen zudem die lückenlose Dokumentation und Kontrolle sämtlicher Tätigkeiten und Arbeitsschritte. Das ist schon aus rechtlicher Hinsicht problematisch, könnte aber auch zu psychischer Belastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter führen – je mehr Befehle über die Brille erfolgen, desto stärker ist das Gefühl der Überwachung.

Mit dem technologischen Fortschritt der letzten Jahre wurde die Hard- und Software deutlich verbessert. Die Datenbrillen erwärmen sich nicht mehr so stark wie früher und sind wesentlich leichter, die Sichtfenster größer. Mit dem 5G-Netz dürfte sich auch die Erkennung und Verarbeitung der Datenpunkte wesentlich beschleunigen. Die benötigte Rechenpower ist bei höherer Auflösung der Bewegtbilder enorm – Nebenwirkungen wie das erwähnte Schwindelgefühl könnten künftig gemildert werden, da die zeitliche Verzögerung in der Darstellung wegfällt. Auch an der Verbesserung der Gesten- und Sprachsteuerung in problematischen Situationen, z. B. bei lauter Arbeitsumgebung oder wenn keine Hand frei ist, wird stetig gefeilt.

Einen Vorteil haben Head-Mounted-Displays auf jeden Fall: Statt der starren Tätigkeit am Schreibtisch mit Tastatur, Maus und Bildschirm könnte mit der virtuellen oder erweiterten Realität Bewegung in die Arbeitswelt kommen. 

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