Donnerstag, Dezember 26, 2024
"Absolute Gerechtigkeit gibt es nicht"

Im Gespräch über Steuergerechtigkeit, die wirtschaftliche Situation von Selbstständigen und die Hilfsmaßnahmen der Regierung möchte Steuerberater Johannes Meller seinen Klientinnen und Klienten das Gefühl der Benachteiligung, das bei vielen herrscht, nehmen.

Report: Die Einschränkung des Wirtschaftslebens aufgrund der Coronakrise werden schrittweise wieder aufgehoben. Welche Erfahrungen haben Ihre Klienten in den vergangenen Monaten gemacht und wie ist es ihnen wirtschaftlich ergangen?

Meller:
Wir haben rund 200 Klienten, darunter auch GmbHs und Personengesellschaften – die große Mehrheit aber sind Einzelunternehmer ohne Angestellte und viele freiberuflich Selbstständige. Darunter sind Psychotherapeuten, Journalisten, Architekten, Künstler und Fotografen. Die Situation einzelner Branchen lässt sich nicht verallgemeinern. Es liegt viel am Einzelnen. Neukunden in der Coronakrise zu gewinnen, war für viele nicht möglich. Allgemein aber lässt sich sagen: Unternehmerinnen und Unternehmer, die aktiv mitgestalten und ihre Handlungsspielräume nutzen, haben die Nase vorn.

Zwei meiner Klienten haben Ladengeschäfte, für die es in den vergangenen Monaten ein Betretungsverbot gab. Dort sind die Umsätze bis auf ein paar Lieferungen nach Online-Bestellungen an Geschäftskunden fast auf Null gegangen. Natürlich haben jene mit einem beratungs- und personalintensiven Geschäft stärker gelitten als schlank aufgestellte Unternehmen. Eines der Unternehmen hat mit einem Versandhandel ein zweites Standbein und hatte dadurch einen geringeren Umsatzrückgang.

Eine Geigenlehrerin hat die Hälfte ihrer Schüler über Skype unterrichtet, während der andere Teil eine Unterrichtspause genommen hat. Auch hier hat sich erwiesen, dass jene besser zurechtkommen, die sowohl für eine Musikschule arbeiten als auch privat Schüler haben.

Auch bei den zirka 45 Psychotherapeutinnen und -therapeuten, die ich betreue, waren die Schwankungen extrem: Einige hatten überhaupt keinen Geschäftsrückgang. Sie haben von Anfang an klar kommuniziert, Sitzungen online per Skype, Zoom, eine andere Software oder übers Telefon abzuhalten. Bei anderen Therapeuten, die viele Kinder betreuen, hat diese Alternative weniger gut geklappt. Einzelne haben anfangs auch den Fehler gemacht, ein Ende der Beschränkungen abwarten zu wollen. Das hat Klienten, die erst vor zwei, drei Monaten mit der Therapie angefangen haben, bewogen, diese abzubrechen. Für viele Klienten hat die Situation auf jeden Fall zu einer Verschiebung neuer Projekte geführt.

Report: Wenn wir die Hilfsmaßnahmen der Regierung betrachten – wie bewerten Sie diese?

Meller:
Die ersten vorgestellten Maßnahmen waren der Härtefallfonds und die Corona-Kurzarbeit für Dienstgeber. Seit Ende Mai kann auch ein Fixkostenzuschuss beantragt werden. Kurzarbeit haben ca. 20 % der Dienstgeber, die ich betreue, beansprucht. Sie ist in der Abwicklung kompliziert – die Regelungen wurden unter dem Druck von Verhandlungen und Kritik mehrfach geändert –, aber sie ist eine schnelle und wirksame Hilfe für die Unternehmen. Während die Kurzarbeit drei bis maximal sechs Monate läuft, dürfen keine Dienstnehmer gekündigt werden. Das ist für den Arbeitsmarkt stabilisierend. Gerade Österreich, wo die Corona-Ausbreitung im internationalen Vergleich sehr rasch zurückgedrängt wurde, kommt nun zugute, dass die Arbeitslosigkeit nicht immens gestiegen ist.

Die Gelder für die Kurzarbeit sind meines Wissens nach relativ rasch – nach wenigen Wochen – bei den Unternehmen angekommen. Durch die ausständige endgültige Rechtslage konnten die Anbieter von Lohnverrechnungssoftware aber über Monate keine Updates liefern. Die Lohnverrechnerin hat sich zunächst mit dem Buchen von Akontozahlungen für die Beschäftigen geholfen. Erst im Juli können die Monate März bis Juli neu durchgerechnet werden. Die Dienstnehmer haben von der Mehrarbeit nichts mitbekommen und die Arbeitgeber dies eher nur am Rande – die Firma muss sich zum elektronischen AMS-Konto anmelden und monatlich Aufzeichnungen zur Arbeitszeit sicherstellen. Die Lohnverrechnungen für die betroffenen Monate müssen aber zweimal gemacht werden. Das war ein riesiger Mehraufwand, den man auch nur teilweise dem Lohnverrechnungsklienten in Rechnung stellen kann. Dieser ist ja ohnedies in finanziellen Schwierigkeiten.

Es ist schwer zu sagen, wie man es einfacher machen könnte. Es ist aber objektiv festzuhalten, dass es unendlich kompliziert geregelt wurde. Man hatte den Eindruck, dass es etwas ist, wo nur die Spezialisten durchblicken.

Report: Was sind Ihre Erfahrungen mit den Auszahlungen aus dem Härtefallfonds?

Meller: Die Zahlung aus dem Härtefallfondszuschuss, die einige Klienten beantragt hatten, sind nach ein bis zwei Wochen ausbezahlt worden. Lediglich ein Antrag wurde abgewiesen. Generell aber kommt diese Hilfe rasch an und man kann sie auch mehrfach – für die neun Betrachtungszeiträume insgesamt sechsmal – beantragen. Diese Perioden müssen nicht hintereinander liegen, es ist also etwa Mitte März-Mitte April, Mitte April-Mitte Mai und Mitte Juni-Mitte Juli möglich. Andererseits müssen beim Fixkostenzuschuss die Perioden unmittelbar hintereinander liegen. Das ist spannend, denn es ist eine Stolperfalle für Antragsteller. Diese unterschiedliche Regelung ist auch für die wahrgenommene Gerechtigkeit nicht zielführend. Dass man das nicht bereits korrigiert hat, ist sicherlich der gegenwärtigen Arbeitslast des Gesetzgebers zuzuschreiben.

Report: Was empfehlen Sie Antragstellern beim Thema Fixkostenzuschuss?

Meller: Der Fixkostenzuschuss von mindestens 500 Euro kann bei einem Umsatzeinbruch von mindestens 40 % beantragt werden. Dieser muss von der Buchhaltung abgeleitet werden und ist deshalb mit viel Rechenarbeit verbunden. Wir schätzen vier bis sechs Stunden pro Antrag. Wir empfehlen hier Anträge erst ab 19. August zu stellen, um zumindest zwei Tranchen auf einmal zu erledigen. Unternehmer haben Ende August die Buchhaltungszahlen von Mitte März bis Mitte Juni vorliegen und können den Zuschuss für diese Periode in einem Zug beantragen.

Report: Die Hilfszahlungen sind in den USA vergleichsweise unbürokratisch ausgezahlt worden.

Meller:
Zumindest jenes Instrument, das mit unserem Härtefallfonds-Zuschuss vergleichbar ist, ist der Notscheck für jeden US-Steuerzahler – eine genial einfache Lösung. 1.200 Dollar für Einzelpersonen bis zu einem Jahreseinkommen von 75.000 Dollar mit einer anteiligen Reduzierung der Hilfszahlung bis zu 100.000 Bruttoeinkommen, Paare haben 2.400 Dollar bekommen, sowie 500 Dollar pro Kind. Es ist eine transparente Regelung, die jedem einleuchtet. Man muss dafür weder Mathematiker noch Volkswirt sein. Sie ist nicht treffsicher, da sie auch an Menschen geht, die keine Hilfe benötigen. Aber absolute Gerechtigkeit gibt es nicht – auch nicht bei den österreichischen Regelungen.

Report: Sehen Sie bei den Hilfsmaßnahmen ein Risiko für den Staatshaushalt?

Meller: Die Zuschüsse von heute sind die Steuern von morgen, wurde etwa von der Industriellenvereinigung gewarnt. Firmen sollten sich mit Anträgen auf Zuschüsse zurückhalten, sofern diese nicht unbedingt für das Unternehmen erforderlich sind. Missbrauch beugt man von staatlicher Seite vor: Zu Unrecht gestellte Hilfsanträge können zu einem Rückforderungsanspruch führen und können sogar Gefängnisstrafen auslösen. Der Fixkostenzuschuss muss von einem Steuerberater bestätigt werden – schon aus Haftungsgründen ist automatisch sichergestellt, dass der Antrag rechtmäßig gestellt wird. Es hat sich durchgehend bei den Steuerberatern herumgesprochen, sich hier nicht zu Beitragstätern zu machen. Der Corona-Kurzarbeitszuschuss hängt von den Personalkosten der Unternehmen ab, die objektiv feststehen. Missbrauch ist durch Konsumation von Zuschüssen statt von offenen Urlaubstagen denkbar.

Auch die Bürgschaft und Haftung durch den Staat bei dem aws-Kredit ist absolut sinnvoll: Unternehmen wird damit durch die Krise geholfen, um künftig wieder Gewinne zu erwirtschaften, Steuern zu zahlen und Dienstnehmer zu beschäftigen. Ein Risiko für den Staat sehe ich nur dann, wenn in der Bevölkerung die Meinung vorherrschen würde, dass sich alle anderen ohnehin bereichern und niemand allein ohne Zuschüsse bleiben möchte. Wenn bei einem früheren Finanzminister laufende Gerichtsprozesse nach zehn Jahren noch immer nicht abgeschlossen sind, fördert das die Steuermoral definitiv nicht. Es herrscht hier ein diffuses, ungutes Gefühl in Österreich, dass die Mächtigen es sich richten können.

Report: Sie haben am Anfang der Coronakrise an Ihre Klienten appelliert, eine Herabsetzung der Einkommensteuer-Vorauszahlungen 2020 und SVS-Beiträge gründlich zu überlegen, anstatt automatisch zu beantragen. Warum?

Meller:
Wenn wir alles auf Null setzen, fehlen auch dem Staat die Einnahmen. Das würde die Krise verschärfen. Und für die Klienten bedeutet es auch keinen Vorteil – allfällige Steuern müssen dann 2021 nachgezahlt werden und können dann wieder zu Liquiditätsengpässen führen. Es ist eine wichtige Aufgabe der Steuerberater, die Vorauszahlungen an Einkommenssteuer und Sozialversicherung dem voraussichtlichen Gewinn anzupassen. Wir wollen damit Nachzahlungen vermeiden, die gleichzeitig eintreten würden.

Wir haben mittlerweile eine Reihe an Anträgen gestellt – aber erst zu einem Zeitpunkt, an dem die tatsächliche Höhe der Umsatzeinbrüche ersichtlich war. Manche Steuerberater haben Ende März pauschal für alle ihre Klienten Herabsetzungen beantragt – einfach um das Thema vom Tisch zu haben.

Report: Was raten Sie Selbstständigen bei Steuerangelegenheiten in den ersten Jahren ihrer unternehmerischen Tätigkeit?

Meller: Im ersten Jahr einer Selbstständigkeit sind die Steuervorauszahlungen meist null. Die Vorauszahlungen für die Sozialversicherung sind auf einer Mindestbasis. Also sollte rasch im zweiten Jahr die Steuererklärung erstellt werden – damit man die Höhe der Nachzahlungen erfährt. Nachdem das zweite Jahr bereits ein volles Jahr mit zwölf Monaten Tätigkeit bedeutet, sollte man aktiv die Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge auf Basis des voraussichtlichen Gewinns beantragen. Warum ist das so wichtig? Diese Beiträge reduzieren damit bereits ab dem zweiten Jahr die Einkommensteuer. Ich empfehle auch, bereits im zweiten Jahr Einkommensteuervorauszahlungen zu tätigen. Diese müssen nicht in der vollen Höhe sein, sondern gerade ausreichend, um eine kleinere Nachzahlung von vielleicht 1.000 Euro – und eben nicht 5.000 Euro – zu gewährleisten. Dieser Anpassungsprozess ist ebenso im dritten, im vierten, und auch noch im 15. Jahr erforderlich.

Im vierten Jahr werden dann die Sozialversicherungsbeiträge auf Basis des Gewinns im ersten Jahr festgesetzt, im fünften Jahr dann auf Basis des zweiten – jeweils plus 7,9 %. Man muss sich aktiv damit beschäftigen und es ist Aufgabe jedes Unternehmers, sich einen Überblick über seine Sozialversicherungsbeiträge und Einkommensteuer zu verschaffen und einen rudimentären Liquiditätsplan zu erstellen. Unternehmen, die über Liquiditätsreserven von etwa drei Monaten verfügen, haben weniger unter der Coronakrise gelitten.

Die Steuerung vernünftiger Vorauszahlungen ist eine hohe Kunst. Ich empfehle hier, sich auch den passenden Steuerberater zu suchen. Es gibt Kanzleien, die auf mittelgroße Unternehmen spezialisiert sind, und Steuerberater, deren Arbeitsablauf die Betreuung einer Vielzahl von Ein-Personen-Unternehmen ermöglicht.

Report: Was sind gängige Missverständnisse beim Thema Lohnsteuer und Abgaben?

Meller:
Viele Selbstständige glauben, dass die Sozialversicherungsbeiträge bei der Einkommenssteuer nicht absetzbar sind. Man meint also, doppelt zahlen zu müssen. Fakt ist, dass Selbstständige genauso wie Angestellte behandelt werden: Vom Bruttogehalt werden die Sozialversicherungsbeiträge und allfällige Betriebsausgaben abgezogen – damit kommt man auf den Gewinn. Von diesem wird die Lohnsteuer berechnet und abgezogen, um das Nettogehalt zu erhalten. Bei Unselbstständigen ist die Rechnung die gleiche, auch wenn man dort nicht von Gewinn spricht.

Auch verstehen viele nicht, warum man umgekehrt die Sozialversicherungsbeiträge zum Gewinn hinzurechnen muss, um auf die Beitragsgrundlage für die Sozialversicherung zu kommen. Diese wurde vom Bruttoverdienst abgezogen, muss für die Gesamtberechnung also wieder hinzugefügt werden. Selbstständige sind hierbei Angestellten nicht besser oder schlechter gestellt – es ist eine für alle konsistente und gerechte Lösung.

Ich hatte noch keinen einzigen Klienten, der – bevor er zu mir gekommen ist – dieses Schema bereits verstanden hat. Wenn man es aber einmal erklärt, wird es akzeptiert und es sorgt für Klarheit. In der breiten Öffentlichkeit ist es weithin unbekannt. Wer das Sozialversicherungssystem nicht durchschaut, tendiert dazu, sich ungerecht behandelt zu fühlen. Ich versuche dem in meiner täglichen Arbeit mit aktiver Wissensvermittlung entgegen zu wirken.

Auch haben viele, die seit Jahren selbstständig sind, oft noch nie einen Überblick über die absetzbaren Betriebsausgaben – wo gibt es einen Gestaltungsspielraum, was ist sicher nicht absetzbar – erhalten. Leider lassen viele Steuerberater ihre Klienten da im Dunkeln. Das ist schade, denn erstens sind diese dafür sehr dankbar und zweitens wird die Zusammenarbeit mit ihnen generell einfacher.

Report: Gibt es ungerechte Steuern für Dienstnehmer oder Selbstständige in Österreich?

Meller:
Wir haben in Österreich zweifelsfrei ein hohes Steuerniveau mit hohen Sozialversicherungsbeiträgen – ungerecht aber ist es nicht. Das Niveau ermöglicht dem Staat Sozialtransfers und Zuschüsse. Und natürlich gibt es Potenzial für Einsparungen. Von der Regierung wurden vor der Krise Steuersenkungen angekündigt. So sinkt 2020 der Steuersatz für natürliche Personen im Einkommensbereich von 11.000 bis 18.000 von 25 % auf 20 %. Diese Reduktion gilt für alle in Österreich einkommensteuerpflichtigen Personen und im vollen Umfang auch für höherverdienende Personen. In den Medien wird oft behauptet, Besserverdienende profitieren weniger von dieser Steuersenkung, aber das stimmt nicht.

Ob aber die weiteren Senkungen bei der Einkommensteuer – von 42 % auf 40 % und 35 % auf 30 % – so kommen, wie sie geplant waren, wird man noch sehen. Auch ist für 2023 die Senkung der Körperschaftssteuer von 25 auf 21 % geplant. Gesetz dazu gibt es noch keines.

In den Gesprächen mit meinen Klienten beobachte ich, dass es einen relativ hohen Anteil an Menschen gibt, die sich ungerecht behandelt fühlen. Wenn man ein System nicht zur Gänze durchschaut, kommt bei vielen das dumpfe Gefühl auf, benachteiligt zu werden – ohne einen Beweis dafür zu haben. Dann sehe ich gerade in Österreich eine gewisse Anspruchsberechtigung in vielen Bereichen des Lebens, also auch auf Sozialtransfers oder Steuerbegünstigungen. Das Misstrauen in den Staat aufgrund von Intransparenz und diese Anspruchshaltung sehe ich als für das Unternehmertum hinderlich. Man wird weniger innovativ und flexibel, strengt sich vielleicht weniger an – das alles wären Faktoren, die eigentlich den wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen bestimmen.

Report: Was lieben Sie an Ihrer Arbeit?

Meller:
Ein Standbein ist meine anspruchsvolle Arbeit für Kapitalgesellschaften. Zur Vielfalt aber führen die vielen Ein-Personen-Unternehmen, die ich betreue. Sie teilen mir ihre Wünsche weniger fordernd mit, sind flexibler hinsichtlich Fertigstellungsdatum von Aufträgen und überdies zahlen sie Honorare meist schneller als die großen Firmen. Ich bekomme bei 200 Menschen mit, was sie jedes Jahr beschäftigt – ihre Ziele, Pläne und Beschwerden – ganz allgemein ihre Lebenssituation. Wesentlich tiefgehender als beim Zeitungslesen gibt mir das einen Einblick in die aktuelle Verfassung der Wirtschaft. Das ist spannend und lehrreich.

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