Walter Schinnerer, Österreich-Vorstand der Deutschsprachigen SAP-Anwendergruppe (DSAG), über den Umstieg auf S/4HANA und Vorbehalte der Industrie bei Cloud-Services.
Report: Sie sind im Vorjahr als neuer Österreich-Sprecher der DSAG angetreten. Welches ist für Sie das aktuell dringlichste Thema im Markt?
Walter Schinnerer: Der SAP-Bestandskundenmarkt befindet sich in einer Zeit des großen technologischen Wandels. SAP selbst spricht vom »intelligenten Unternehmen«. Ich glaube den Schlagworten der SAP, jedoch wird es notwendig sein, dass jedes Unternehmen individuell seinen eigenen Pfad, seine passende Taktung und Geschwindigkeit und auch die richtigen Produkte findet.
Nun ist SAP gerade mit der Möglichkeit, Business-Software an die Anforderungen der Unternehmen anzupassen, über viele Jahre erfolgreich geworden. Es gibt kaum einen langjährigen SAP-Kunden, der nicht zahlreiche Modifikationen umgesetzt beziehungsweise eine Vielzahl an ergänzendem Coding entwickelt hat. SAP selbst hat dies stets auch mit eigenen Entwicklungswerkzeugen unterstützt. Geht es aber jetzt nach dem Softwarehersteller, laufen SAP-Prozesse künftig möglichst in der Cloud – »public« oder »private« in einem SAP-Rechenzentrum –, und zwar standardisiert und als einheitliche Prozesse ohne Modifikationen. Wir sehen es als Aufgabe, SAP wieder auf den Boden zu bringen und in die Realität des Alltags der Kunden zu holen. Trotzdem wissen auch wir: Die Welt hat sich weitergedreht.
Report: Was hat sich verändert?
Schinnerer: Das Argument der Wirtschaftlichkeit in der einfacheren Administrierbarkeit gerade auch bei mehreren Standorten ebenso wie das Vertrauen in Cloud-Applikationen, das sukzessive steigt, haben zu einer Meinungsänderung geführt. Cloud-Komponenten sind nun zumindest für manche Unternehmen und einige Branchen eine Option geworden. Trotzdem bleibt es eine Riesenherausforderung für den Hersteller, einen ausgereiften SAP-Bestandskunden dazu zu bringen, alles wegzuschmeißen und komplett in die neue Welt zu gehen. In vielen Projekten bedeutet das auch einen Parallelbetrieb der alten und neuen Infrastruktur über viele Monate oder sogar Jahre.
Ich beschäftige mich seit 25 Jahren mit SAP-Software und sehe, dass SAP-Produkte ebenso wie jede andere Software über die Jahre am Markt, im Einsatz bei den Kunden reifen müssen. Zur Markteinführung von S/4 HANA hatte SAP vor einigen Jahren zum Beweis zunächst die eigene Buchhaltung darauf umgestellt. Mittlerweile gilt die Beweisführung als abgeschlossen. Die Qualität ist sicherlich ausreichend für den Einsatz in der Industrie. Das gilt bei weitem nicht automatisch auch für den bunten Zoo weiterer neuer SAP-Produkte.
Report: Wo bestätigt sich die Marktreife von S/4HANA?
Schinnerer: In Finanzabteilungen der Unternehmen wurden die laufenden Auswertungen im Reporting stets direkt in der Betriebswirtschaftssoftware von SAP durchgeführt. Historische Reports mussten aus Ressourcengründen im Business-Warehouse-System durchgeführt werden. Mit SAP S/4HANA sollte auch dies auf Knopfdruck im laufenden Betrieb funktionieren. Sind diese Prozesse im S/4HANA-Kern integriert, hatte es auch immer problemlos funktioniert – anders bei konsolidierten Bilanzen, in denen mehrere Buchhaltungen und Systeme übereinandergelegt werden. Aber auch das gilt als gelöst: SAP liefert nun beispielsweise mit den »Model Companies« musterhafte Firmeneinstellungen zur Anleitung aus. Hier erwarte und hoffe ich auch auf mehr Beispiele für unterschiedliche Branchen.
SAP sollte sich auch überlegen, den Listenpreis der Musterlösung einem marktüblichen Wert anzupassen. Die DSAG ist gerne bereit, an der Modellierung und Schärfung dieser Lösungen mitzuarbeiten und gibt dem Hersteller Unterstützung sowie Kunden-Feedback. Das Produkt SAP S/4HANA ist reif genug, die Nachfolge von SAP ERP anzutreten. Davon bin ich hundertprozentig überzeugt. Vorsichtiger sollte der Hersteller aber mit Aussagen sein, ein Übergang von der alten in die neue Welt sei in nur sechs oder neun Monaten erfolgreich abgeschlossen.
Report: Wie intensiv beschäftigen sich Unternehmen in Österreich mit der Umstellung oder zumindest Überlegungen dazu? Sie leiten das SAP-Kompetenzzentrum der österreichischen Sozialversicherungsträger – wie sieht es dazu bei der ITSV aus?
Schinnerer: Derzeit beschäftigen sich viele Unternehmen in Österreich damit. In einer Vorstudie prüfen wir in der ITSV gerade den Wechsel auf S/4HANA entweder in einem Greenfield- oder Brownfield-Approach in den kommenden Jahren. Die Konsolidierung der Sozialversicherungsträger in Österreich wäre jedenfalls ein guter Zeitpunkt, auch Teile der IT im Backend zu harmonisieren. Für 21 Sozialversicherungsträger wurde eine entsprechende Mandantenvielfalt mit ebenso vielen Buchungskreisen abgebildet – das könnte man auch einfacher gestalten.
Vor Herausforderungen wie diesen steht im Prinzip jede größere Organisation. Bei Gesundheitsdaten haben Sie dann noch die gesetzliche Vorgabe, diese innerhalb der Staatsgrenzen speichern zu müssen – in Deutschland sogar im jeweiligen Bundesland. Damit sind Public-Cloud-Lösungen undenkbar. SAP S/4HANA wird nach meiner Einschätzung aber ohnehin zumeist »on premise« betrieben. SAP setzt allerdings bei einigen anderen Werkzeugen ausschließlich auf eine Cloud-Strategie. Hier hoffe ich, dass es bald eine klare Aussage zu einem SAP-Datacenter in Österreich gibt, mit der die Nutzung hybrider Lösungen möglich wird. Hier könnten auch Rechenzentrumsbetreiber mit öffentlich-rechtlichem Hintergrund einspringen und entsprechende Deals mit SAP aushandeln.
Report: Wie offen sind Industrieunternehmen bei der Umstellung ihrer Prozesse in die Cloud?
Schinnerer: Den vollständigen Weg in die Cloud kann ich mir bei Industriekunden einfach nicht vorstellen. Wenn ich meinen Fertigungsprozess und damit auch Geschäftsgeheimnisse in der Software abgebildet habe, werde ich diese nicht in eine Public Cloud oder – bei allem Vertrauen – in einer Private Cloud in Walldorf oder Dublin betreiben lassen.
Hier muss aber klar zwischen Unternehmen mit eigenem Rechenzentrumsbetrieb und dem Rest unterschieden werden. Für etwa ein Fertigungsunternehmen, das seine IT ohnehin zukauft, stellt sich diese Frage gar nicht. Das Unternehmen wird von Anfang an auf einen Cloud-Partner setzen.
Über den Verband
Die Deutschsprachige SAP-Anwendergruppe (DSAG) mit Sitz in Walldorf, Deutschland, ist eine unabhängige Interessenvertretung der SAP-Anwender in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ziele sind, die Interessen der AnwenderInnen gegenüber SAP zu vertreten, um bedarfsgerechte SAP-Lösungen zu schaffen, sowie das Networking der Community mit SAP zu fördern. Vereinsmitglieder sind 3.500 Unternehmen, Institutionen und Behörden im deutschsprachigen Raum, darunter 252 Unternehmen in Österreich.