Montag, Dezember 30, 2024

Die wenigsten Betriebe sahen sich bisher gezwungen, an ihrer Attraktivität für potenzielle Mitarbeiter zu feilen.Gebremste Konjunktur, überfüllte Universitäten, steigende Arbeitslosigkeit – und trotzdem Personalknappheit? Der deutsche Ökonom Karl Brenke bezweifelt den seit Jahren beklagten Fachkräftemangel. Die Schere zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt könnte leicht geschlossen werden.

Ende Dezember waren in Österreich 360.583 Menschen ohne Job, rund 56.000 davon befanden sich in Schulungen. Für 2012 rechnet das Arbeitsmarktservice (AMS) mit weiteren 11.000 Betroffenen. Dümpelt das Wirtschaftswachstum wie prognostiziert in den nächsten Jahren um nur ein Prozent herum, kommen bis 2015 jährlich etwa 10.000 Personen dazu.

Grund zur Panik besteht nicht: Nach EU-Berechnung ist Österreich mit einer Quote von 4,1 % nach wie vor das Land mit der niedrigsten Arbeitslosigkeit unter allen  Mitgliedsstaaten. Die durchschnittliche Arbeitslosenrate der EU-27 ist doppelt so hoch wie hierzulande, Spitzenreiter sind Spanien (22,8 %) und Griechenland (18,3 %). Auch bei den Jugendlichen – im Rest Europas bereits als »verlorene Generation« bezeichnet – sind die Zahlen noch nicht beunruhigend. In der Altersgruppe bis 25 Jahre liegt Österreich mit einer Arbeitslosenquote von 9,1 % hinter Deutschland und den Niederlanden an dritter Stelle. AMS-Vorstand Johannes Kopf will die Zahl der arbeitssuchenden 15- bis 19-Jährigen bis 2015 um 30.000 verringern. Gelingen soll dies über Qualifizierungsprogramme, denn Fachkräfte werden noch immer benötigt. Die meisten Unternehmen ließen sich von den trüben Aussichten bisher nicht beunruhigen, die Auftragsbücher sind offenbar voll. 2012 erwartet das AMS die Meldung von rund 350.000 neuen Jobs. Personen, die lediglich über einen Pflichtschulabschluss verfügen, sind jedoch auf dem Arbeitsmarkt praktisch chancenlos.

>> Auf Sparkurs <<

Nur in wenigen Branchen ist die stagnierende Konjunktur bereits spürbar. Der Stahlkonzern Voestalpine fährt seine Produktion sukzessive zurück. Kurzarbeit droht zwar nicht, von den insgesamt rund 4.300 Leiharbeitern werden heuer aber voraussichtlich bis zu 20 % abgebaut. Diese Tendenz – in der Regel ein früher Indikator für dräuende Krisen – können Personalvermittler derzeit nicht bestätigen. Erich Pichorner, Geschäftsführer von Manpower Österreich, ortet eine gewisse Verunsicherung, aber mit dem Krisenjahr 2008, als der Markt schlagartig massiv einbrach, sei die Situation jedoch keinesfalls vergleichbar. Das Beratungsunternehmen Interconnection Consulting hat die Wachstums­prognose für die Zeitarbeitsbranche heuer dennoch vorsichtshalber von ursprünglich 22,9 auf 13,2 % revidiert. Als Grund nennt Interconnect-Geschäftsführer Frederik Lehner Exportrückgänge und eine rückläufige Nachfrage im EU-Binnenmarkt.

2009 verzeichnete das AMS Zuwächse von mehr als 30.000 Stellensuchenden. Und so schmeichelnd der internationale Vergleich der Arbeitslosenstatistik auch sein mag: Tatsache ist, dass die Zahl der Jobsuchenden nie wieder auf das Vorkrisenniveau zurückging – auch nicht in Österreich. Weniger als 300.000 Arbeitslose wird es auf absehbare Zeit wohl nicht mehr geben. Dass die meisten Länder wesentlich schlechter dastehen, dürfte den Betroffenen herzlich egal sein. Im Budget ist nun aber Sparen angesagt. Für wirksame Wirtschaftsimpulse fehlt der Regierung das Geld. Trotz Abschwung beklagen Wirtschaftsvertreter gebetsmühlenartig den Mangel an Fachkräften. Laut Industriellenvereinigung (IV) haben 75 % der österreichischen Leitbetriebe Schwierigkeiten, geeignete Facharbeiter zu finden. Rund 10.000 Jobs könnten derzeit nicht besetzt werden. Außerdem bestehe in der Industrie ein Bedarf an zusätzlich 4.000 bis 5.000 Lehrlingen, so IV-Generalsekretär Christoph Neumayer. Gleichzeitig sind beim AMS 6.200 Lehrstellensuchende bei 4.100 offenen Stellen vorgemerkt. Paradox? Keineswegs, meint Neumayer, der eine auseinanderklaffende Schere zwischen den Anforderungen der Betriebe und den Fähigkeiten der Jugendlichen konstatiert. Rund 10.000 Jugendliche pro Jahr erreichen derzeit weder einen Pflichtschulabschluss noch eine weiterführende Ausbildung und fallen damit praktisch aus dem System. Für Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl »eine Vergeudung menschlicher Ressourcen«. Andererseits bildet aber nur ein Siebtel der Unternehmen selbst Lehrlinge aus.

Nach einer market-Umfrage kann bereits jeder zweite Betrieb mit mehr als 20 Mitarbeitern die personelle Lücke nicht zufriedenstellend schließen. Besonders groß sei der Bedarf im Hotel- und Gastgewerbe, im Handel und Baugewerbe. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young errechnete aus dem Fachkräftemangel für Deutschland einen »erheblichen volkswirtschaftlichen Schaden«: »Dem deutschen Mittelstand entgehen Umsätze in Höhe von hochgerechnet rund 30 Milliarden Euro«, verlautete das Unternehmen in seinem Mittelstandsbarometer 2011.

>>  Marktwirtschaft als Korrektiv <<

Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) will in diesen Chor nicht einstimmen. Seinen Untersuchungen zufolge lässt sich derzeit kein generell verknapptes Arbeitskräfteangebot nachweisen. »Der Begriff Fachkräftemangel passt eher zu einem vor etwa 20 Jahren zugrundegegangenen Wirtschaftssystem und vernachlässigt die Fähigkeit von Marktwirtschaften, auf Knappheiten zu reagieren«, sagt der Ökonom. Alles Humbug also? Brenke zieht die Art der Erhebungen grundsätzlich in Zweifel: Personalchefs würden immer klagen, keine geeigneten Leute zu finden – eine Berufskrankheit quasi. Tatsächlich ist der Anteil jener Betriebe, die aufgrund fehlenden Personals ihre Produktion einschränken müssen, auch im zeitlichen Verlauf nicht außergewöhnlich gestiegen. Derzeit bremsen etwa 36 % der Unternehmen ihre wirtschaftlichen Aktivitäten. 23 % nannten als Grund die schwächere Nachfrage, nur 8 % Arbeitskräfteknappheit.

Ein weiteres Indiz, dass von einem eklatanten Mangel noch keine Rede sein kann, ist für Brenke die Lohnentwicklung. Eine Knappheit müsste sich in signifikanten Lohnsteigerungen bei den gesuchten Fachkräften niederschlagen. Die Löhne und Gehälter haben sich aber in Deutschland und Österreich nur sehr schwach entwickelt, auch bei höher qualifizierten Jobs. »Offensichtlich sind Arbeitskräfte also reichlich vorhanden«, meint der Beschäftigungsexperte. Wie Brenke aus früheren Studien weiß, klagen vornehmlich jene Unternehmen über fehlendes Personal, die vergleichsweise niedrige Löhne zahlen. Vor allem in Österreich sieht der Wirtschaftsprofessor auch in Bezug auf die Arbeitszeiten noch freie Kapazitäten: Der Beschäftigungszuwachs der vergangenen zehn Jahre sei zur Gänze auf Teilzeitjobs zurückzuführen – die Arbeitgeber müssten lediglich mehr Vollzeitstellen anbieten, um ihren angeblichen Bedarf zu decken. Ältere Mitarbeiter werden noch immer gerne frühzeitig in die Pension entsorgt. Dazu kommt das Heer an Frauen, die es nach der Karenz nicht mehr zurück in ihren Job schaffen.

>>  Demografischer Knick ><<

In einigen Regionen und Branchen, vor allem im Gesundheitswesen, kündigen sich jedoch personelle Engpässe an. In wenigen Jahren könnte sich das Bild bereits drehen, denn ab 2020 geht die sogenannte »Baby-Boomer«-Generation, die geburtenstarken 1960er-Jahrgänge, in Pension. Durch diesen demografischen Knick wird es in den nächsten Jahren einen »historischen Rückgang« an Arbeitskräften geben, so eine Studie der Boston Consulting Group (BCG). Laut OECD wird die Zahl der Pensionierungen im Jahr 2020 um rund 56 % höher sein als die Zahl junger Menschen, die in den Arbeitsmarkt eintreten. Um das derzeitige Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten, werden bis 2030 in Europa mehr als 45 Millionen zusätzliche Arbeitskräfte benötigt, sagt BCG-Senior Partnerin Antonella Mei-Pochtler:  »Österreich muss für eine bessere Aus- und Weiterbildung sorgen und den Standort für ausländische Arbeitnehmer attraktiv gestalten.« Bisher ist dies nur unzureichend geschehen. Von den Wanderungsbewegungen innerhalb der EU konnten Österreich und Deutschland kaum profitieren. Beide Länder verwehrten Arbeitskräften aus den osteuropäischen Beitrittsstaaten bis Mai 2011 die volle Freizügigkeit. Möglicherweise spielen Sprachbarrieren eine Rolle, aber »wahrscheinlich kommt hinzu, dass die Beschäftigungsbedingungen nicht hinreichend attraktiv sind«, meint Arbeitsmarktexperte Karl Brenke. »Dafür spricht, dass in den letzten Jahren vermehrt Fachkräfte abgewandert sind – insbesondere in Hochlohngebiete wie die Schweiz, Skandinavien oder Großbritannien.«

Die wenigsten Betriebe sahen sich bisher gezwungen, an ihrer Attraktivität für potenzielle Mitarbeiter zu feilen. Wertschätzende Unternehmenskultur, flexible Arbeitszeitmodelle, Kinderbetreuungsangebote und Weiterbildungsprogramme machen sich gut im Leitbild auf der Website, sind aber nicht immer gelebte Praxis. Die Bewerberfluten der vergangenen Jahre werden möglicherweise bald Geschichte sein. Dann könnten die Unternehmen zu Recht jammern.

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