Mittwoch, November 20, 2024
Nieder mit der Arroganz
Peter Lieber ist Gründer und Inhaber von LieberLieber Software, Präsident des Kuratoriums der Ausbildungsstätte TGM und Präsident des Österreichischen Gewerbevereins. (Bild: ÖGV/Fabian Sorger)

Der Unternehmer Peter Lieber setzt sich als Präsident des Österreichischen Gewerbevereins für etwas ein, das in Österreich nicht gerne gesehen wird: die gemeinsame Sache von Wirtschaft und Bildung. 

Sie wollen den Personalbedarf von Unternehmen stärker mit der Berufsbildung verknüpfen. Warum?

Der Österreichische Gewerbeverein setzt auf das Dreieck Bildung, Wissenschaft und Wirtschaft. Als Unternehmer stört es mich, dass diese Bereiche getrennt werden. In Österreich ist man traditionell entweder im Bildungssystem tätig, oder man arbeitet wissenschaftlich, oder man ist in der Wirtschaft. Jede Durchmischung wird abgelehnt. In den USA ist das völlig anders.

Was läuft in Zeiten des Fachkräftemangels in den Unternehmen falsch?

Unternehmen erwarten sich vom Bildungssystem fix fertig ausgebildete, hochqualifizierte Arbeitskräfte – am liebsten alle in der IT tätig, mit einem Doktorat, und uneingeschränkt arbeitswillig zu den günstigsten Konditionen. Die meisten Firmen sind aber selbst nicht bereit auszubilden. Wenn darauf gewartet wird, welche Arbeitskräfte vom Bildungssystem geformt werden, ist zu spät. Wir müssen zehn Jahre früher anfangen – und versuchen, bereits 13- bis 15-jährige mit Berufsbildern und auch Unternehmertum zu konfrontieren. In Österreich müssen sich Jugendliche in diesem Alter für einen Ausbildungsweg entscheiden – es geht dann in eine kaufmännische, eine technische oder eine allgemein humanistische Ausbildung. Viele aber sind nicht in diesem Alter eigentlich nicht entscheidungsfähig und brauchen Unterstützung.

Der Gewerbeverein erreicht mit Initiativen wie dem Talents Day oder der Interview Challenge mehr als 2.000 Kinder jährlich mit diesen Themen. Gemeinsam mit Unternehmer*innen, Lehrbeauftragten und Personalexpert*innen führen wir seit mehr als 30 Jahren fiktive Vorstellungsgespräche rund um unterschiedliche Berufswünsche durch. Für die Kinder ist es eine große Erfahrung, das erste Mal ein Bewerbungsgespräch zu führen und persönliches Feedback zu erhalten. Wir sind dazu vor allem in Polytechnischen Schulen tätig, wo in sehr gemischten Klassen oft Orientierungslosigkeit herrscht. Diese Kinder erfahren mitunter wenig Unterstützung durch das Elternhaus.

Als Service für die Unternehmen bietet der ÖGV an, besonders vielversprechende Talente aus den Gesprächen der Interview Challenges als Lehrstellenbewerber*innen zu vermitteln. Auch wenn es Schwankungen gibt, haben wir in Österreich seit 2010 einen kontinuierlichen Rückgang an Lehrlingen – oder besser: Auszubildenden. Mir gefällt dieser neutrale Begriff besser, denn er beinhaltet auch die Verantwortung der Unternehmer*in auszubilden. Das ist auch volkswirtschaftlich beunruhigend, denn statistisch betrachtet werden rund 70 % der Unternehmen von Personen gegründet, die eine handwerkliche Lehre abgeschlossen haben. Wir sehen also, dass sich unternehmerische Aktivitäten in erster Linie nicht aus einem akademischen Hintergrund heraus entwickeln.

Wie entwickeln sich jüngere Lehrberufe, wie etwa die IT-Lehre?

Aktuell werden drei Berufe angeboten – Applikationsentwicklung, Informationstechnologie der Systemtechnik sowie Betriebstechnik. Aber: Diese Ausbildungen sind bislang kein Erfolg. Es gibt vor allem zu wenig Ausbildungsbetriebe und die Lehre wird nicht nachgefragt. Gerade in Wien fehlt mir hier das Verständnis: 80 % der Umsätze des IT-Sektors in Österreichs werden in Wien generiert, trotzdem haben wir hier die wenigsten Ausbildungsunternehmen. Diese Arroganz ist schon bemerkenswert. Seit Jahren gibt es einen Fachkräftemangel in der IT – da nehme ich doch das Heft selbst in die Hand und bilde Menschen aus, aber leider hat in Wien das Konkurrenzdenken anscheinend mehr Gewicht. Natürlich muss man damit rechnen, dass rund ein Viertel nach der Lehrzeit das Unternehmen verlässt, um die Welt zu erkunden. Aber das war immer schon so. Das Rezept für die Unternehmen sollte sein, einfach noch mehr auszubilden. Und wenn sich Menschen in Unternehmen wohl fühlen, dann bleiben sie.

Der ÖGV unterstützt und setzt sich für eine Startup-Lehre ein. Was ist deren Zweck?

Wir sind überzeugt, dass der immer schnellere Markt in Zukunft ein Problem der Lehrausbildung verschärft: Lehre ist träge und Lehrbetriebe wissen nicht, was ihre Mitarbeiter*innen in Zukunft können müssen. Die Ausbildung im Betrieb kann immer nur einen kleinen Teil des Berufsspektrums abdecken. Das betrifft eigentlich alle Branchen, besonders gilt das aber für die IT-Branche. Als Unternehmer kann ich vielleicht 25 Prozent des Umfangs eines IT-Berufs abdecken, eine weiteres Viertel kann vielleicht über das Berufsförderungsinstitut zugekauft werden, die restlichen 50 Prozent müssen dann aber wahrscheinlich privat  mitgenommen werden, denn ich weiß heute eben noch gar nicht, was gebraucht wird. Deshalb sagen wir, es braucht eine Lehrausbildung, die von Anfang an das innovative Mindset fördert und mit Unternehmertum bekannt macht.  Durch die Startup-Lehre sind Lehrlinge einen Teil ihrer Ausbildungszeit in Startups und innovativen Betrieben. Ausbildung wird zu einem gemeinschaftlichen Projekt in Ausbildungsverbünden. Der ÖGV übernimmt dabei nicht nur die Koordination, sondern wir fördern darüber hinaus den Austausch der Unternehmen untereinander.

Das Konzept des Ausbildungsverbunds gibt es schon länger, aber bisher hatte es eine andere Ausrichtung: Es war eher bürokratisch auf die Lehrbetriebszulassung oder bestimmte Fachkenntnisse bezogen.

Durch die Startup Lehre erlernen die Lehrlinge nicht nur woanders Fachkenntnisse, sondern sie werden sehr bewusst in eine andere Unternehmenskultur mit anderen Ansätzen als ihrem Lehrbetrieb geschickt. Zusätzlich zu Fachkenntnissen werden so ihre persönlichen Kompetenzen und Eigenverantwortung gestärkt und entwickelt. Gerade bei Startups erleben sie etwas ganz Zentrales hautnah, nämlich dass Arbeitsplätze, Produkte und Leistungen ihren Markt finden und erobern müssen.

Unterm Strich organisieren wir ein Setting, in dem das unternehmerische Denken, das wir immer stärker brauchen, gefördert wird – denn wir brauchen Innovationsfähigkeit, nachhaltige Strategien und laufende Optimierung.  Übrigens organisieren wir damit etwas nur neu, das es bereits im Mittelalter gab: die Walz. Allerdings muss der bzw. die Ausgebildete bei unserer Walz 4.0 nicht bis zum Ende seiner Lehre warten und dafür nicht auf Wanderschaft gehen. Die verschiedenen Facetten seines Berufs, die unterschiedlichen Gebaren von Unternehmen, kann und soll er bzw. sie schon während der Ausbildung erleben.

Können Sie ein Beispiel aus der Praxis geben?

Unterstützt vom Arbeits- und Wirtschaftsministerium haben wir inzwischen mit 28 Ausbildungsverbünden für die Startup-Lehre, die wissenschaftlich begleitet wurde, Erfahrungen sammeln können und das Programm stetig weiterentwickelt. Es wurden in den unterschiedlichsten Konstellationen hervorragende Ergebnisse erzielt. Beispielsweise hat eine App-Entwicklerin in einem Hightech-Startup ‚Embedded Engineering‘ gelernt. Sie hat sich dort nicht nur eine zusätzliche Programmiersprache angeeignet, sondern auch praktische Erfahrung beim Einbau der Chips in die Apparate und beim Testen gesammelt.

Ein Elektrotechnik-Energiewirtschaft-Lehrling hat die Montage und Integration von Anlagen ins Stromnetz in einem Solaranlagenbetrieb vor Ort gelernt oder Personaldienstleister-Lehrlinge des AMS lernen in einem Unternehmen, das Jugendliche mit Lernschwierigkeiten fördert. Besonders spannend ist es aber, wenn Lehrlinge in Betriebe kommen, die auf den ersten Blick wenig mit der eigenen Ausbildung zu tun haben: Industriekaufmann-Lehrlinge eines Unternehmens, das elektronische Bauteile herstellt, haben sich in einem Startup hervorragend entwickelt, das Workshops und Fortbildungen im Bereich ‚Neue Arbeit‘ organisiert. Bürokaufleute der ÖBB oder Lehrlinge der AUVA sind in unterschiedlichste Startups aus den Bereichen Health, Energie und Diversity-Unternehmensberatung gegangen.

Ich selbst habe einen IT-Lehrling in einen Bioladen geschickt, wo er ganz praktische Tätigkeiten nicht nur erlernt hat, sondern sie auch als Prozesse analysiert und in ‚Unified Modeling Language‘ modelliert hat. Das völlig andere Umfeld und insbesondere die persönlichen notwendigen Transferleistungen bringen die Jugendlichen, ihre Kompetenzen und Selbstkenntnis einfach weiter. Sie kommen in jedem Fall persönlich gestärkt zurück, wissen besser, was sie machen, und danken es dem Lehrbetrieb. Das ist jedenfalls unsere Erfahrung. Ich kann es jedem Lehrbetrieb und Lehrling nur empfehlen.

Warum wird der Begriff Startup in diesem Ausbildungsmodell verwendet?

Wir hängen nicht am Begriff Startup-Lehre und künftig können die Partnerbetriebe im Ausbildungsverbund auch Jungunternehmer*innen oder Entrepreneurs oder innovative Betriebe heißen. Wichtig ist: Die Maßnahme erreicht nicht nur den Lehrling und seine Ausbildung, sondern es entsteht eine Kooperation von zwei Unternehmen. Etablierte Unternehmen lernen Startups bzw. innovative Unternehmen kennen und letztere lernen Lehrbetriebe und die Lehrausbildung als Möglichkeit kennen. Lehre ist eine hervorragende und schnelle Ausbildung, die unternehmerisch denkende und passgenaue innovative Mitarbeiter hervorbringen kann, wenn man es richtig angeht. Optimalerweise sollte bereits ab dem Zeitpunkt der Gründung die Ausbildung als Teil der Unternehmensentwicklung etabliert werden.

Und auf der anderen Seite glauben wir, dass klassische Lehrbetriebe, die derzeit Nachwuchsprobleme haben, sich damit aufwerten und auch selbst weiterentwickeln können. Ein typisches Beispiel ist eine Bäckerei, die in den 50er Jahren gegründet wurde, heute fünf Mitarbeiter*innen hat und der Eigentümer zieht sich zurück. Die Kinder wollen nicht übernehmen, eine jüngere Führungskraft ist nicht nachgekommen, folglich wird der Betrieb geschlossen. Das ist schade, denn mit einer entsprechenden Ausbildung im Haus kann man die notwendige Dynamik aufrechterhalten – ob man nun wachsen oder das Geschäft weiterentwickeln möchte.

Mein eigener Anspruch als Unternehmer ist, dass mein Betrieb auch nach meiner Pension weitergeführt wird. Ich gründe eine Firma, damit sie eigenständig und operativ unabhängig von meiner Person funktioniert. Als Unternehmer möchte ich am Unternehmen arbeiten – und nicht im Unternehmen.

Mitunter scheuen Unternehmer*innen aber auch die Kosten für den Aufwand, die Lehrstellen bringen.

Der Aufwand ist sicherlich etwas, das man keinesfalls unterschätzten sollte. Der ÖGV bietet deshalb auch Hilfestellung bei der Lehrausbildung für die Unternehmen an. Was viele Skeptiker nämlich unterschätzen – weil es unübersichtlich ist und geplant werden muss – sind die Möglichkeiten durch der Wirtschaftskammer und der Arbeiterkammer. Die Lehrlingsausbildung ist sicherlich der Themenbereich, in dem sich die beiden Kammern völlig einig sind. Die Betriebe werden bei möglichen Problemen und Herausforderungen mit ihren Auszubildenden nicht allein gelassen – angefangen bei Beratungsleistungen bis hin zu Sprachkursen. Allen ist klar: Menschen sind der größte Schatz, den wir am Wirtschaftsstandort Österreich haben. Und der Staat ist definitiv bereit, hier zu investieren.

Abseits von Lehrberufen gibt es in Österreich kaum eine Verbindung von Wirtschaft und Bildung.  

Im Bildungsbereich gibt es die HTL als Ausnahme sowie Technikschulen wie beispielsweise die Höhere Technische Bundeslehr- und Versuchsanstalt TGM in Wien. Sie war eine Gründung des niederösterreichischen Gewerbevereins im 19. Jahrhundert. Man adressierte zunächst die Handwerkstechnik Korbflechten, für die es damals keine Ausbildung gab. In dieser Tradition steht dem TGM heute ein Kuratorium mit Vertreter*innen aus der Wirtschaft zur Seite, das Trends und Entwicklungen und Veränderungen daraus auch für künftige Ausbildungen diskutiert.

Vieles wird in den technischen Lehranstalten richtig gemacht, wie etwa das Angebot an Unternehmen für das Durchführen von Versuchen bei Werkstoffen und das Erstellen von technischen Prüfzertifikaten. Kommt es aber im Zuge einer neuen Idee zu Verdienstmöglichkeiten für Lehrkräfte, ist das in Österreich nicht nur verpönt, sondern es wird regelrecht geahndet. Unternehmerisches Denken innerhalb der Versuchsanstalten – dazu gehören auch die HTLs – wird leider im Keim erstickt.

Was wünschen Sie sich noch für Ihre Arbeit im ÖGV?

Traditionell fördert der ÖGV die Verbindung von Bildung, Wissenschaft und Wirtschaft, und hierfür brauchen wir engagierte Mitstreiter*innen und Mitglieder. Im Gewerbeverein sind wir ehrenamtlich tätig. Wir sehen es als unsere Aufgabe, das Bewusstsein für das Unternehmertum zu schärfen und unsere gesellschaftliche Rolle als Unternehmer*innen einzunehmen. Es gibt hier dringenden Handlungsbedarf, denn viele finden nicht die Zeit, diese Rolle einzunehmen. Sie sind häufig die wichtigste Schlüsselarbeitskraft und von der operativen Geschäftsführung ihres Unternehmens absorbiert. Es braucht einen gewissen Reifegrad, Mut und manchmal ein eigenes Managementteam für die Unternehmensführung, um sich vom Geschäftsalltag lösen, sich mit anderen vernetzen und wichtige Themen treiben zu können. Ich wünsche mir, dass mehr Unternehmer*innen diesen Sprung schaffen. Unsere Türen stehen offen.



Ohne Zwangsmitgliedschaft
Der ÖGV ist ein überparteilicher Verein für Unternehmer*innen und wurde vor rund 180 Jahren gegründet. Mitglieder kommen aus Industrie, Gewerbe, Handel und freien Berufen. Der ÖGV setzt sich für Rahmenbedingungen für ein erfolgreiches Unternehmertum in Österreich ein.

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