In anderen Ländern legen oft wochenlange Streiks verschiedener Berufsgruppen den Alltag lahm. Österreich setzt hingegen seit den 1950er-Jahren erfolgreich auf die Sozialpartner. Aber auch hier verhärten sich die Fronten zunehmend. Hat die Sozialpartnerschaft ausgedient? Report(+)PLUS hat drei Experten um ihre Einschätzung gebeten.
Waren die Kollektivvertragsverhandlungen – die mehr als 95 Prozent aller Beschäftigten betreffen – auch noch so zäh, am Ende konnten sich die Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter*innen immer auf ein tragbares Ergebnis einigen. Nicht zuletzt deshalb zählt Österreich zu den Ländern mit den wenigsten Streiktagen. Auch in der Wirtschaftskrise ab 2008 und der Coronapandemie konnte rasch ein Konsens zu abfedernden Maßnahmen, etwa Kurzarbeit, gefunden werden. Gegenwärtig steht die Kompromissbereitschaft wieder auf der Probe – braucht es womöglich ein zeitgemäßeres Instrument als die Sozialpartnerschaft?
Hat die Sozialpartnerschaft ausgedient?
Hanno Lorenz
Stellvertretender Direktor der Denkfabrik Agenda Austria
Gerne wird in Österreich auf die historischen Erfolge der Sozialpartnerschaft verwiesen. Und tatsächlich wird in Österreich im internationalen Vergleich eher selten gestreikt. Auch sind wir eines der Länder, in denen die Einkommensunterschiede nach Steuern und Transfers am geringsten sind. Doch seit geraumer Zeit ist einiges an Sand im Getriebe. Spielten die Sozialpartner in der großen Koalition auch auf der Regierungsbank noch mit und stellten sogar den ein oder anderen Minister, wurde dies unter Türkis-Blau deutlich zurückgedrängt. Während die Sozialpartnerschaft in normalen Zeiten wenig gefordert ist, sind wirtschaftlich turbulente Zeiten eigentlich die große Chance, ihren Mehrwert aufzuzeigen. Im Zug des Zwölfstundentags ist man daran gescheitert. Es bleibt abzuwarten, ob die Sozialpartner in den aktuellen Lohnverhandlungen mit Rekordinflation und Rezession die Bewährungschance nutzen können – oder ob wir ein Ende der Sozialpartnerschaft sehen.
Walter Pöschl
Partner und Arbeitsrechtsexperte der Anwaltssozietät Taylor Wessing
Rechtlich gesehen, nein. Laut Verfassung anerkennt die Republik die Sozialpartner und achtet ihre Autonomie. Wirtschafts- und Arbeiterkammer sind durch eigene Gesetze etabliert, die u. a. die Pflichtmitgliedschaft regeln. Das Arbeitsverfassungsgesetz – die rechtliche Basis für Kollektivverträge – weist den Sozialpartnern, gerade auch den Gewerkschaften, eine besondere Rolle zu. Kollektivverträge haben in Österreich quasi gesetzliche Wirkung: Sie gelten für die betroffenen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen, ob diese das wollen oder nicht. Das ist im Vergleich zu anderen Ländern schon eine große Machtfülle, aber auch Verantwortung für die Sozialpartner.
Friedrich Schneider
Research Institute of Banking and Finance der Johannes Kepler Universität Linz
Nein, das hat sie auf keinen Fall. Sie ist eine der wichtigsten und effizientesten Institutionen zur Konfliktlösung, die wir in Österreich haben. Sie löst Konflikte durch Verhandlungen – und genau dieses Instrument ist heute wichtiger denn je. Die Konflikte werden zunehmen und gerade deshalb brauchen wir die Sozialpartnerschaft. Sie sollte auch auf Umweltprobleme ausgeweitet werden, denn deren Lösung erfordert einen tragfähigen Konsens aller Betroffenen. Als akzeptierte Institution sollte sie auch dort zum Einsatz kommen, so könnten vielleicht Blockaden verringert werden.
Welche Signalwirkung haben Streiks in der derzeitigen Situation?
Hanno Lorenz: Aktuell sehen wir mit der Arbeitskräfteknappheit eine starke Verhandlungsmacht auf Seiten der Arbeitnehmervertretung. Streiks zeigen, wie weit man gewillt ist, diese Macht auch für die eigenen Interessen bis aufs Äußerste auszureizen. Gegenwärtig kommt der Produktionsstandort Österreich von mehreren Seiten unter Druck. Begonnen hat dies bereits im Jahr 2021 und 2022 mit der Lieferkettenanfälligkeit, gefolgt von gestiegenen Energiekosten bis hin zu Arbeitskräfteknappheit und steigenden Arbeitskosten. Bleiben wir für einige Jahre in diesem Umfeld, wird das den strukturellen Wandel deutlich beschleunigen. Das bietet Gefahren, Wohlstand zu verlieren, aber gleichzeitig auch Chancen, sich für die Zukunft gut aufzustellen.
Walter Pöschl: Streiks – vom kurzen Warnstreik bis zum unbefristeten branchenübergreifenden Streik – sind die letzte Eskalationsstufe im Repertoire der Gewerkschaft. Vorher stehen eher Betriebsrätekonferenzen und Betriebsversammlungen auf dem Programm. Noch sind Streiks selten in Österreich, nicht unüblich ist aber das Drohen mit Streikmaßnahmen. Wenn jetzt die Metaller mit Streik drohen, so hat dies eine Signalwirkung für andere Branchen, etwa den Handel, der auch gerade Verhandlungen startet. Wenn eine Branche mit der Streikdrohung ernst macht, gilt das natürlich auch als Ermutigung für andere Branchen.
Friedrich Schneider: Zunächst einmal, dass Verhandlungen nicht zum Erfolg führten. Streiks kosten den Staat, die Konsument*innen und die Wirtschaft viel. Wenn Lösungen dadurch erzwungen werden, bleibt ein bitterer Nachgeschmack. Jeder Streiktag kostet der österreichischen Wirtschaft ca. 1,78 Milliarden Euro und sollte daher vermieden werden.
Wird der Wirtschaftsstandort Österreich dadurch gefährdet?
Hanno Lorenz: Gefährdet ist der Standort immer dann, wenn man sich auf dem Erreichten ausruht oder zu sehr darauf beschränkt, den bestehenden Wohlstand zu verteilen, statt in Zukunft Wohlstand zu genieren. Es hängt daher entscheidend davon ab, wie wir aus der aktuellen Situation herauskommen. Gute Löhne sind ebenso wichtig wie eine gesunde Wettbewerbsfähigkeit für das Land. Nutze ich die Krisen, um die Strukturen zu modernisieren, dann hilft es uns langfristig sogar. Schon Winston Churchill wusste: »Never let a good crisis go to waste.« Dafür bräuchte es aber deutlich mehr Mut bei Politik, Interessenvertretungen und auch der Bevölkerung, den Wandel zu akzeptieren und zu gestalten.
Walter Pöschl: Rechtlich betrachtet: Was in der angespannten Situation sicher nützlich wäre, wären gesetzliche Regelungen zum Streik, z. B. wann und unter welchen Umständen gestreikt werden darf und welche Folgen das für die Arbeitgeber*innen und -nehmer*innen hat. Solche gesetzlichen Regelungen sind bei uns derzeit im Grunde nicht vorhanden, wären aber aus Gründen der Rechtssicherheit wünschenswert. Und diese ist immer förderlich für einen Wirtschaftsstandort.
Friedrich Schneider: Da bei uns in den meisten Fällen die Kompromissbereitschaft hoch ist, haben wir nur ganz selten lange Streiks. Wir gefährden den Standort viel stärker durch den Arbeitskräftemangel und die sehr hohen Lohnnebenkosten. Diese beiden Faktoren sind die wesentlichen Gründe für die schleichende Abwanderung von Betrieben aller Art. Einmal »abgewanderte« Betriebe sind meistens nicht mehr bereit, wieder in Österreich zu produzieren, wenn nicht die Gründe der Abwanderung beseitigt werden. Geschieht dies, dann sind wir noch wettbewerbsfähiger und werden auch für ausländische Firmen noch attraktiver, ihren Standort nach Österreich zu verlegen.