Stellantis, Delka/Salamander, Forstinger, Kika/Leiner: In den vergangenen Wochen haben einige große Unternehmen Insolvenz angemeldet oder angekündigt, Österreich zu verlassen. Die Wirtschaftskammer Wien spricht von »negativen Entwicklungen in einzelnen Branchen«. Handelt es sich um Ausnahmefälle? Ist Österreich als Standort für internationale Unternehmen noch interessant? Report(+)PLUS hat drei Expert*innen um eine Einschätzung gebeten.
Ist die derzeitige Häufung von Großinsolvenzen eine Spätfolge der Pandemie?
Gudrun Meierschitz
Vorständin der Acredia Versicherung AG
Was wir derzeit sehen, ist vor allem eine Marktbereinigung. Sogenannte Zombie-Unternehmen, die kein langfristiges Geschäftsmodell haben, haben nur aufgrund der umfangreichen Pandemie-Hilfen überlebt. Jetzt, da die Hilfen weggefallen sind, können diese Betriebe im derzeit schwierigen Wirtschaftsumfeld nicht überleben. Zusätzlich droht Unternehmen, die Schwächen im Eigenkapital haben, im Zinsmarathon die Luft auszugehen.
René Tritscher
Geschäftsführer der Austrian Business Agency (ABA)
Jede Insolvenz ist eine zu viel. Im ersten Quartal 2023 gibt es erstmals seit Pandemiebeginn etwas mehr Insolvenzen als davor. Es war abzusehen, dass wir nach dem Auslaufen der Pandemie-Hilfen mit einem Nachholeffekt rechnen müssen. Ich gehe allerdings davon aus, dass sich die Zahl der Insolvenzen bald wieder im Bereich des Vor-Corona-Niveaus einpendeln wird.
Daniel Knuchel
Partner bei Advicum Consulting
Daniel Knuchel, Partner bei Advicum Consulting. (Foto: Advicum)
Ja. Die weltweiten staatlichen Maßnahmen haben die Insolvenzen verhindert bzw. verschleppt. Insbesondere Großunternehmen haben davon profitiert. Die aktuellen Großinsolvenzen müssen als Teil einer wirtschaftlichen Bereinigung gesehen werden, bei der Unternehmen, die vor der Pandemie bereits anfällig waren oder ineffiziente Geschäftsmodelle hatten, nun aus der Wirtschaft ausgeschieden werden. Die Pandemie hat jedoch zweifellos als Katalysator für viele Insolvenzen gedient und die wirtschaftlichen Bedingungen verschärft.
Wie kann Österreich als Wirtschaftsstandort attraktiver werden?
Gudrun Meierschitz: Ich sehe eine große Chance im Umstieg auf nachhaltiges Wirtschaften. ESG ist das Thema der Zukunft und bietet die große Chance, sich Wettbewerbsvorteile am Weltmarkt zu sichern. Österreichische Unternehmen sind sehr innovationsstark und es gibt genug Kapital am Markt, um die Klimawende zu finanzieren. Betriebe, die jetzt in nachhaltige Produkte, Kreislaufwirtschaft und Vermeidung von Rohstoffverschwendung investieren, werden in ein paar Jahren die Nase vorne haben.
René Tritscher: Wie in vielen entwickelten Volkswirtschaften fehlt es auch österreichischen Unternehmen an genügend Fachkräften. Mit der Verbesserung der Rot-Weiß-Rot-Karte wurde letztes Jahr ein wichtiger Schritt zur Erleichterung von qualifizierter Zuwanderung gesetzt. Wir müssen allerdings weiterhin an unserem Image des Standorts arbeiten und dabei unterstreichen, dass Österreich ein attraktives Industrie- und Forschungsland ist. Das kommunizieren wir international als ABA laufend.
René Tritscher, Geschäftsführer der Austrian Business Agency. (Foto: Patricia Wiesskirchner)
Daniel Knuchel: Österreich hat bereits jetzt viele positive Eigenschaften als Wirtschaftsstandort – doch gut ist nicht gut genug. Es sind die klassischen Themen, die Österreich attraktiver werden lassen: Förderung von Innovation und Forschung, Unterstützung von Start-ups und Unternehmertum, Ausbau der digitalen Infrastruktur, Fachkräfteattraktion und -bindung, Investitionen in nachhaltige Entwicklung sowie weiterer Bürokratieabbau und eine zukunftsorientierte Steuerreform. Um auch zukünftig attraktiv zu sein, muss sich Österreich flexibel und dynamisch zeigen.
Ist der Personalmangel eine Wachstumsbremse?
Gudrun Meierschitz: Definitiv! Viele Unternehmen berichten uns, dass die Nachfrage da ist, allerdings fehlen Ihnen die Fachkräfte. Das Problem zieht sich durch alle Branchen und wird sich wohl nicht so schnell lösen lassen. Die geburtenstarke Generation der Babyboomer geht nun schrittweise in Pension, das wird die Situation zusätzlich verschärfen. Auch international kommt es immer wieder zu Lieferkettenengpässen durch Mangel an Personal. Das bremst natürlich auch das heimische Wirtschaftswachstum.
Gudrun Meierschitz, Vorständin der Acredia. (Foto: Acredia)
René Tritscher: Laut dem Mittelstandsbarometer von Ernst & Young ist der Bedarf an Fachkräften schon heute für über 60 Prozent der heimischen Betriebe die größte Gefahr für die Entwicklung ihres Unternehmens. Wenn Unternehmen nicht mehr alle Aufträge annehmen können, sprechen wir von einer Wachstumsbremse. Um an genügend qualifizierte Arbeitskräfte zu kommen, braucht es ein Bündel an Maßnahmen, darunter auch verstärktes internationales Recruiting über die Rot-Weiß-Rot-Karte. Die Servicestelle der ABA unterstützt Unternehmen und Fachkräfte kostenlos bei der Antragstellung.
Daniel Knuchel: Ja, Personalmangel kann definitiv eine Wachstumsbremse sein. Wenn Unternehmen nicht über ausreichend qualifizierte und engagierte Mitarbeiter*innen verfügen, können sie ihre Produktionskapazitäten nicht voll ausnutzen, neue Projekte nicht umsetzen oder in ihrer Innovationskraft eingeschränkt sein. Ein Mangel an diversen Talenten kann die Innovationskraft eines Unternehmens beeinträchtigen und es schwieriger machen, mit den sich ändernden Marktbedingungen Schritt zu halten. Insgesamt ist der Personalmangel ein ernsthaftes Thema, das die Wachstumsaussichten von Unternehmen beeinträchtigen kann.
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In der letzten Ausgabe haben wir mit Expert*innen über den Personalmangel in Österreich gesprochen: Die große Report-Umfrage: Arbeitskräftemangel