Sonntag, Dezember 22, 2024

Wie wird die Fabrik der Zukunft aussehen? Franz Haas, Dekan der Fakultät für Maschinenbau und Wirtschaftswissenschaften an der TU Graz, glaubt an eine »Renaissance der Maschine« und spricht sich im Report(+)PLUS-Interview für mehr Empathie in der Technik aus, die den Menschen wieder in Mittelpunkt stellt. (Titelbild: Lunghammer/ TU Graz)


(+) plus: Die TU Graz hat im Vorjahr die Pilotfabrik smartfactory@tugraz eröffnet. Welche Möglichkeiten bieten sich dadurch für die Forschung und für die beteiligten Unternehmen?

Franz Haas: Wir spannen einen weiten Bogen von der Forschung zur praktischen Umsetzung. Der primäre Vorteil einer Pilotfabrik liegt darin, dass man in einer geschützten Umgebung neue Technologien ausprobieren kann. Die maschinelle Infrastruktur ist ein wichtiger Punkt – insbesondere aber die Software, denn mindestens 50 Prozent des Investments der Pilotfabrik entfallen auf diesen Bereich. Wir bieten den Zugang zu ganz konkreten Anwendungen, z. B. dem Testen eines autonomen Fahrzeugs, eines Shuttles für die Intralogistik oder eines kollaborativen Roboters.

Auf der anderen Seite stehen Forschungs­aspekte – und da gehen wir durchaus auch unübliche Wege. Aktuell haben wir eine Zusammenarbeit mit Prof. Gernot Müller-Putz, unserem Spezialisten für Neurotechnologie an der TU Graz, zu sogenannten Brain Computing Interfaces (BCI) gestartet. Wir testen über Hirnstrommessungen die Reaktion des Menschen auf Gefahren und andere Situationen bzw. auch die Robotersteuerung über Gedanken.

Vieles davon liegt noch weit in der Zukunft, ist aber für die Arbeitssicherheit heute schon von Bedeutung. Wir sind als Universität der Grundlagenforschung verpflichtet und berühren auch Themen, die nicht rein technischer Natur sind, nämlich wirtschaftliche Aspekte, die Auswirkungen von Arbeitssystemen auf die Gesundheit, aber auch ganz allgemein die Folgen der Automatisierung und Digitalisierung auf das Arbeitsleben.

(+) plus: Maschinenbau galt immer als »schmutzige« Schwerarbeiterbranche. Wenn nun die Software diesen Bereich erobert, wie wirkt sich das auf die Berufsbilder in der Produktion aus?

Haas: Die Berufsbilder haben sich deutlich geändert, trotz allem liegt die Basis noch immer im fachlichen Know-how zu den Prozessen in der Fertigungstechnik. Man sollte die Produktionsverfahren kennen, die fürs Erste nicht automatisiert sind und durchaus etwas »Schmutziges« an sich haben können. Es wird zunehmend auch für kleinere Losgrößen interessant, automatisiert zu fertigen. In der Produktion per se ist der unmittelbare Eingriff des Menschen nicht notwendig, aber die Systemverfügbarkeit wird immer wichtiger.

Beispielsweise ist in einem großen Stahl- oder Walzwerk die wichtigste Abteilung die Instandhaltung: Falls eine Störung auftritt, muss binnen kürzester Zeit jemand zur Verfügung stehen, die oder der die Anlage wieder in Gang bringt. Das erfordert tiefes Prozesswissen und auch die Notwendigkeit, einmal einen Schrauber oder eine Bohrmaschine zur Hand zu nehmen. Die IT zu beherrschen, ist wichtig. Das unmittelbare Werken an der Produktionsmaschine wird trotzdem nie aussterben.

(+) plus: Roboter arbeiten genauer, schneller und können bereits komplexe Aufgaben bewältigen. In welchen Bereichen sind sie dem Menschen noch nicht überlegen?

Haas: Roboter sind nicht nur leistungsfähig und mit Sensoren top ausgestattet, sondern mittlerweile auch wirtschaftlich gut einsetzbar. Der Mensch ist der Systemarchitekt und Systemintegrator. Er gestaltet Systeme so, dass sie leistbar und skalierbar sind. Darin sehe ich die Schwerpunkte der zukünftigen Arbeit – nicht in der monotonen Betätigung von Maschinen. Die Maschinenbau-Kompetenzen haben sich grundlegend gewandelt und vor allem um die IT-Kompetenz erweitert. Dass Fertigung etwas extrem Spannendes ist, zeigt sich im Besonderen beim »Prototyping« mit 3D-Druckern und Laserschneidanlagen. Die Zukunft liegt nicht nur in der Software.

(+) plus: Früher waren Roboter in Käfige eingesperrt, heute arbeiten sie Seite an Seite mit den Menschen. Wie gut funktioniert die Interaktion zwischen Mensch und Maschine?

Haas: Wenn man Cobots einsetzt, ist es ein Miteinanderarbeiten im besten Sinn. Die Gefahren, die von der Maschine ausgehen, sind hier ausgeschaltet. Die Geschwindigkeit ist aber reduziert, d. h. man kann nicht so wirtschaftlich arbeiten. Über physiologische Daten, also Herzfrequenz, Hirnströme etc. lässt sich vielleicht schneller eine Fehlreak­tion der Maschine erkennen und der Nottaster auslösen – das macht es in Zukunft möglich, die Geschwindigkeit etwas zu steigern. Die Industrie braucht Roboter. Und die Erfahrung zeigt, dass sich die Mitarbeiter*innen durch automatisierte Einrichtungen durchaus entlastet fühlen.

(+) plus: Ist die Sensorik die große Herausforderung?

Haas: Ich würde mir generell eine Verbesserung des Reifegrads der Maschinen wünschen. Was die Hersteller versprechen, wird nur zu etwa 85 Prozent eingehalten. Damit das System wirklich rasch implementiert werden kann, ist der Weg dann meist doch ein etwas weiterer. Diese Phase der Inbetriebnahme mit den üblichen Kinderkrankheiten zu überstehen, kostet viel Mühe. Hier kann der Einsatz leistungsfähiger, robuster Sensoren sehr viel beitragen.

(+) plus: Sind die individuellen Anforderungen in den Fabriken zu unterschiedlich?

Haas: Hier wäre auch die Wissenschaft gefordert, wieder mehr Standardisierung hineinzubringen. Der Griff in die Kiste ist immer derselbe, egal ob ich Schrauben oder hochkomplexe Elektronikkomponenten heraushole. Wir brauchen natürlich ein klares Bekenntnis zu den Grundelementen der Elektromobilität: Die Batteriezelle ist die neue Schraube – alles baut auf der Batteriezelle auf. Wir haben gemeinsam mit Industriepartnern ein Battery Innovation Center gegründet, wo wir mit einer Roboteranwendung an der Zusammenstellung von Battery Packs aus unterschiedlichen Zellen arbeiten. Diese Technologien werden für die Automatisierungstechnik der Zukunft sehr wichtig sein.

»Dass Menschen mit Hubstaplern herumfahren und Transportwagen mit halbfertigen Teilen von Maschine a zu Maschine b bringen, wird aufhören« , sagt Franz Haas. (Bild: TU Graz)

(+) plus: Wenn viele Tätigkeiten von der Maschine übernommen werden, verlieren Mitarbeiter*innen ihre Problemlösungskompetenz. Dazu kommt, dass der Mensch für überwachende Tätigkeiten gar nicht besonders geeignet ist. Läuft die Automatisierung in die falsche Richtung?

Haas: Ich kann das Phänomen des De-Skilling aus eigener Erfahrung bestätigen. Wertschöpfende Tätigkeiten und präzise Arbeiten werden häufig der Maschine überantwortet, aber Randtätigkeiten gibt man – weil es sich noch nicht rechnet oder weil der Prozess nicht fertig gedacht wurde – an einen Menschen ab. Da steht dann zum Beispiel eine Mitarbeiterin am Ende einer Fertigungsstraße und legt das Produkt mit einem prüfenden Blick in eine Verpackung. Man müsste wieder mehr die Erkenntnisse aus Forschungen der 1980er-Jahre zu »Job Enlargement«, »Job Enrichment« und »Job Rotation« beherzigen. Wer nicht auf ein erfülltes Berufsleben zurückblicken kann, wird im Alter unglücklich sein.

(+) plus: Nicht jede*r ist für eine hochwertige Tätigkeit geeignet. Wo sollen diese Menschen unterkommen?

Haas: Ich gebe Ihnen recht: Es gibt eine ganze Reihe von Menschen, die nicht in der Lage sind, den heutigen Anforderungen zu entsprechen. Das ist auch eine Ursache unseres derzeitigen Fachkräftemangels. Wenn man Stellenausschreibungen liest, glaubt man, hier werden lauter »Supermen« und »Superwomen« gesucht. Man sollte sich in den Ansprüchen ein bisschen zurücknehmen, vielleicht findet man dann leichter Mitarbeiter*innen. Das verlangt viel Empathie – auch das müssen wir den Techniker*innen von morgen beibringen, um eine Industrie 5.0 zu schaffen, die uns Menschen wieder den wichtigsten Stellenwert beimisst.

(+) plus: Wie wird die Fabrik der Zukunft aussehen? Wird es tatsächlich eine »Dark Factory« ohne Mitarbeiter*innen sein?

Haas: In manchen Branchen, vor allem in der kontinuierlichen Fertigung, wo Bleche, Rohre usw. produziert werden, sieht man schon fast keine Menschen mehr. In einer großen Werkshalle sind vielleicht fünf bis zehn Personen tätig. Der Automatisierungsgrad wird in den nächsten Jahren extrem steigen, insbesondere in der innerbetrieblichen Logistik. Dass Menschen mit Hubstaplern herumfahren und Transportwagen mit halbfertigen Teilen von Maschine A zu Maschine B bringen, wird sich aufhören.

Die Fabrik selbst wird, unabhängig von der Losgröße, auch eine Produktionsumgebung für neue Entwicklungen. Werden fünf Prototypen gebaut, verwendet man dieselbe Anlage und schleust das neue Produkt in die Serienfertigung ein. Die Flexibilität und Agilität der Produktion macht das möglich.

Und: Die Fabrik der Zukunft wird fühlen. Durch unzählige Sensoren gibt sie Rückmeldungen. Diese Unmengen an Produktionsdaten werden sinnvoll gefiltert und im System weiterverarbeitet. Die Produktion ist ein Organismus. Das Feedback an die Produktionssteuerung wird sich verbessern, um eine nachhaltige, CO2-freie, vielleicht sogar energieautarke Produktion zu ermöglichen. Das sollten unsere Forschungsziele sein.

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