TÜV Austria ist seit der Gründung 1872 zu einem inernational tätigen Prüf-, Zertifizierungs- und Weiterbildungsunternehmen gewachsen. Das Thema Sicherheit steht bis heute im Mittelpunkt. Vorstandsvorsitzender Stefan Haas richtet im Report(+)PLUS-Interview den Blick auf die Technologien der Zukunft. (Titelbild: Saskia Jonasch/TÜV)
(+) plus: TÜV Austria feiert das 150-jährige Bestehen. Wie haben sich die Ausrichtung und Schwerpunkte verändert?
Stefan Haas: TÜV Austria ist ein Kind der ersten industriellen Revolution. Damals wurde in Europa die Dampftechnologie eingeführt, eine faszinierende neue Technik, die viele Möglichkeiten geboten hat, aber auch mit Risiken verbunden war. Es gab eine ganze Reihe schwerer Unfälle, weshalb in mehreren Ländern von der Industrie eigene Gesellschaften gegründet wurden, um die neue Technologie sicher und verfügbar zu machen – so auch unsere Vorgängergesellschaft, die »Dampfkesseluntersuchungs- und -versicherungsgesellschaft«.
Wir sind schon lange keine Versicherung mehr, aber der Fokus auf Sicherheit ist geblieben. Wir verstehen uns als Wegbereiter neuer Technologien. Jede verfügbare Technologie wird eingesetzt, auch wenn man sie noch nicht vollständig beherrscht und es keinen gesetzlichen Regelungsrahmen gibt. Als das Internet eingeführt wurde, war Datensicherheit kein Thema. Heute steht es im Mittelpunkt. Wir sind das erste Zertifizierungsunternehmen, das Machine-Learning-Anwendungen einem Prüfschema unterzieht. Das ist insbesondere für den Schutz persönlicher Daten und sicherheitstechnische Auswirkungen relevant.
(+) plus: Ist es die große Herausforderung, das Potenzial neuer Herausforderungen zu erkennen und frühzeitig Standards zu entwickeln?
Haas: Ich bringe ein Beispiel, um den Vorgang zu illustrieren: Kunststoff ist ein Material, das in der heutigen Welt unverzichtbar ist. Aber wie kann man sicherstellen, dass die negativen Auswirkungen für die Umwelt möglichst gering bleiben? Mit dieser Frage beschäftigen wir uns seit 25 Jahren.
Eine Möglichkeit ist die biologische Abbaubarkeit beim Kompostieren von Kunststoff. Das war anfangs kein Trend, schon gar nicht ein Geschäft. Jetzt gibt es in fast jedem Supermarkt die Plastikbeutel fürs Obst mit unserem Logo. Wir sind Weltmarktführer für die Zertifizierung biologisch abbaubarer Kunststoffe. Tiefgreifende Kompetenz erfordert einen langen Atem – auch wenn es nicht immer 25 Jahre dauert.
(+) plus: Auf welche Zukunftsthemen richten Sie den Fokus?
Haas: Wir decken mit unserem Portfolio mehr als 300 Dienstleistungsgruppen für die verschiedensten Technologien und Industriezweige ab. Zwei Themen halte ich für die Zukunft für besonders relevant: Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Digitalisierung ist ein enormer Enabler, hat aber auch einen Pferdefuß: die Datensicherheit. Das gilt nicht nur für Computeranwendungen im Bürobereich, sondern auch in den Fabriken und der kritischen Infrastruktur.
Wir sprechen in diesem Zusammenhang von OT-Security – »Operational Technology«, die jenseits des Office stattfindet. Wenn eine Produktionsanlage oder ein Wasserwerk gehackt werden, hat das nämlich viel weitreichendere Folgen als in einem Büro. Alles was vernetzt ist, ist angreifbar und wird auch sofort angegriffen. Zehn Prozent unseres Konzernumsatzes entfällt bereits auf den Bereich IT-Sicherheit, dieser Anteil wird in den nächsten Jahren auf 20 bis 25 Prozent steigen.
Am Thema Nachhaltigkeit kommt die Menschheit nicht vorbei. Es gibt keine Alternative zum nachhaltigen Umgang mit Ressourcen. Ein Unternehmen ohne glaubwürdige Nachhaltigkeitsstrategie wird in Zukunft nicht am Markt bestehen können. Wir unterstützen mit einem ganzen Portfolio an Dienstleistungen – vom Verifizieren von CO2-Emissionen und der Reduktion des CO2-Fußabdrucks bis zum Nachweis der Recyclinganteile in Produkten.
(+) plus: Wie groß ist das Bewusstsein diesbezüglich bei den Unternehmen?
Haas: Größere Unternehmen sind verpflichtet, einen CSR-Report zu liefern. Um die gesetzlichen Vorgaben zu erfüllen, machen viele nur das absolut Notwendige. Um mehr zu bewegen, ist es aber notwendig, eine Extra-Meile zu gehen.
Ein Unternehmen, das deutlich mehr leistet, ist die Österreichische Post AG. Sie betreibt die größte Elektrofahrzeug-Flotte Österreichs, alle Verteilzentren wurden energetisch modernisiert. Es braucht solche Vorreiter, die zeigen, dass es möglich ist: Man kann den Weg in die Nachhaltigkeit gehen, ohne dabei wirtschaftlich auf der Strecke zu bleiben. Hier entsteht ein positives Momentum. Mitarbeiter*innen und Konsument*innen erwarten einen Beitrag. Diesem Wettbewerb können sich Unternehmen nicht entziehen.
(+) plus: Die Pandemie hat in vielen Bereichen als Beschleuniger gewirkt. Auch in Ihrem Unternehmen?
Haas: Die Pandemie hat einen großen Transformationsschub ausgelöst. Unser Ausbildungsbetrieb, die TÜV Austria Akademie, war 2020 drei Monate lang geschlossen. Wir haben innerhalb von acht Wochen das komplette Kursprogramm auf digitale Weise zur Verfügung gestellt. Das Jahr 2020 war schwierig, aber 2021 dafür das beste Jahr in der Geschichte der Akademie. Die Kund*innen kommen gerne wieder in die Präsenzkurse und zusätzlich kommen jetzt Teilnehmer*innen digital dazu.
Wir profitieren davon, dass wir diese Transformation sehr rasch absolvieren konnten. Das gilt auch für die Inspektionstätigkeiten vor Ort. Viele Tätigkeiten werden künftig durch »Remote Inspection« abgelöst. Über Sensoren ist man in der Lage, eine Anlage aus der Ferne statt in periodischen Abständen kontinuierlich zu überwachen. Störungen können viel früher antizipiert werden, das Sicherheitsniveau steigt und unnötige Interventionskosten fallen weg. Das ergibt für Unternehmen eine enorme Hebelwirkung.
(+) plus: Viele Unternehmen haben Investitionen zurückgehalten. Wird das jetzt zum Nachteil?
Haas: Leider warten viele Unternehmen in der Krise lieber ab. Aus meiner Sicht ist das immer die falsche Strategie. Unternehmen, die Investitionen aufgeschoben haben, wurden von den Lieferkettenproblemen eingebremst. Dieser Investitionsstau ist noch immer nicht ganz aufgelöst. Für die Volkswirtschaft ist das ein Nachteil, zudem werden Investitionen deutlich teurer. TÜV Austria hat 2020 weiter investiert und 13 Unternehmen gekauft, im Vorjahr weitere zehn. Wir sind völlig gegen den Markttrend gewachsen und dürfen nun die Früchte ernten.
(+) plus: Eines der Unternehmen, die Sie gekauft haben, ist das Start-up Applied Statistics (jetzt: TÜV Austria Data Intelligence). Wie erweitert diese Übernahme Ihr Portfolio?
Haas: Daten sind das neue Gold, heißt es – aber nur wenn man sie interpretieren kann. Die Expert*innen von Applied Statistics sind spezialisiert auf die Aufbereitung, Analyse und Interpretation von Daten mittels Machine Learning und Algorithmen. Sie bringen Kompetenzen mit, die uns substanziell verstärken, während wir über das Know-how verfügen, wofür das Wissen aus diesen Daten angewandt werden kann. Beides lässt sich perfekt kombinieren, um insbesondere Industrieunternehmen Big Data Analysis für vorausschauende Wartung, Inspektion, Reparaturvorhersagen etc. anbieten zu können. Dieses Geschäft wird massiv wachsen.
(+) plus: Das Prüf- und Forschungszentrum in Wien-Inzersdorf wird erweitert. Welche zusätzlichen Angebote sind geplant?
Haas: Wir betreiben das Zentrum seit den 80er-Jahren und bauen es zu Österreichs modernsten Prüf- und Laborstandort aus. Dort befindet sich die größte Prüfhalle für elektromagnetische Verträglichkeit. Derzeit wird die größte Computertomographie-Anlage für industrielle Anwendungen errichtet – vom Mikrochip bis zu 200 kg schweren Gussteilen kann dort alles im Detail analysiert und digitalisiert werden.
Außerdem ist eine der größten Klimakammern Österreichs mit einem Wärmepumpenprüfstand geplant. Diese Technologie nimmt in der nachhaltigen Wärmeerzeugung eine Schlüsselrolle ein. Wir sehen unseren Auftrag darin, die Wirtschaft mit Prüfdienstleistungen zu unterstützen. Unsere Laborkonfiguration ist in Österreich einzigartig.
Zur Person
Stefan Haas studierte Maschinenbau an der TU Wien und verfasste als Universitätsassistent ein Lehrbuch für Thermodynamik. Nach dreijähriger Tätigkeit als Projektmanager der Christian Doppler Forschungsgesellschaft wechselte er 1997 zur Knorr Bremse GmbH. Seit 2013 ist Haas Vorsitzender der TÜV AUSTRIA Holding.
Die Unternehmensgruppe wurde 1872 gegründet und ist als international führendes Prüf-, Inspektions-, Zertifizierungs- und Weiterbildungsunternehmen mit über 2.900 Mitarbeiter*innen in 31 Ländern tätig.