IT-Strategien mussten in den letzten Jahren immer wieder angepasst werden, um die sich ständig verändernden Rahmenbedingungen zu bewältigen. Viele S/4HANA-Einführungen waren bisher eher technisch orientiert – Conversion mit Optimierung. Dabei geht es jetzt ums Ganze.
Ein Gastkommentar von Peter Schentler, Managementberatung Horváth Wien.
Covid-19 hat Unternehmen enorm gefordert: Geschäftsbetrieb trotz Kontakt- und Reisebeschränkungen, Mitarbeiter*innen im Homeoffice und Kundeninteraktion über Online-Kanäle. Plötzlich alles digital – es konnte gar nicht schnell genug gehen. Viele Unternehmen und IT-Abteilungen liefen zur Höchstform auf. Innerhalb weniger Tage wurde eine neue Infrastruktur geschaffen, um die Prozesse in Gang zu halten.
Simple Standards wie Workflows, elektronische Signaturen und Rechnungen, Online-Kollaboration – technisch alles schon seit einem Jahrzehnt möglich – wurden über Nacht etabliert und das Kunden- und Lieferantenzusammenspiel adaptiert. Die digitale Transformation hat einen Quantensprung hingelegt, die räumliche Distanz eine Schrumpfung auf Null erfahren, denn wo Mitarbeiter*innen heute sitzen, ist kaum noch relevant.
Weiterer Kraftakt nötig
So überraschend reibungslos die »Basis-Digitalisierung« erfolgt ist, so schwer kauen viele Unternehmen an den notwendigen großen Prozessveränderungen. Hier stellt sich die Frage, ob die vorhandene IT-Landschaft für die weitere Digitalisierung überhaupt noch geeignet ist. Zum Beispiel verursacht Robotics Process Automation (RPA), in der Vergangenheit oft als Heilsbringer genannt, mittel- und langfristig bei Releasewechseln viel Komplexität und Probleme. Die Digitalisierung der Prozesse muss also am Backend erfolgen, um nachhaltig zu sein.
Viele Konzerne gehen jetzt die nächsten Schritte – und nutzen insbesondere S/4HANA als Enabler. Statt »Conversion« setzen sie richtigerweise gleich auf »Transformation« und werfen einen breiteren Blick auf Prozessoptimierung und Software-Lösungen. Dabei stehen zwei Fragestellungen im Vordergrund:
- Die Cloud-Transformation: Zur Modernisierung der IT, Effizienzsteigerung und Entwicklung digitaler Innovationen haben sich Cloud-Lösungen bereits vielfach durchgesetzt. Die Herausforderung besteht nun darin, eine stringente Cloud-Sourcing-Strategie zu definieren, die auch die Verlagerung von komplexen Systemen beinhaltet.
- Die Business-Transformation: Nachdem Remote Work weitestgehend akzeptiert ist, rückt die Digitalisierung des operativen Geschäfts wieder in den Vordergrund. In diesem Kontext zeigt sich die hohe Relevanz von Prozessplattformen sowie die der Umsetzung von Projekten der Prozessautomatisierung.
Gerangel in der Cloud
Inwieweit man ganz oder nur in Teilen in die Cloud wechselt (zu unterscheiden ist hier auch zwischen Public und Private Clouds sowie weiteren Ausprägungen), hängt von der Systemlandschaft der Zukunft ab. Kritisch dabei ist, wie sich das Zusammenspiel zwischen dem Kern-ERP und den »Umsystemen« darstellt. In den letzten Jahrzehnten haben sich nämlich unzählige IT-Lösungen für Spezialaufgaben angesammelt, die ERP-Funktionalitäten bei Produktionssteuerung, CRM, Planung, Konsolidierung oder ähnlichem ergänzen oder sogar ersetzen.
Die Wettbewerbsintensität am Softwaremarkt hat jedenfalls spürbar zugenommen. Neben den etablierten Platzhirschen drängen neue Herausforderer auf den Markt, teilweise Unicorns mit entsprechend hoher Kapitalausstattung. SAP ist weiterhin im ERP-Bereich Marktführer, und es deutet auch wenig darauf hin, dass sich das bald ändert. Doch versuchen einige Wettbewerber mit agilen Cloud-Lösungen, dem Walldorfer Software-Konzern Marktanteile abzuluchsen. Umgekehrt baut SAP mit S/4HANA auch sein Lösungsportfolio um und erweitert es um neue Lösungen und Funktionalitäten. Inzwischen scheint es kaum eine Aufgabe zu geben, die SAP oder präferierte Partner nicht abdecken könnten. Eine SAP-first-Strategie, wie von manchen Unternehmen auch explizit formuliert, ist für viele IT-Verantwortliche damit durchaus möglich.
SAP first oder nicht
Unabhängig von den einzelnen Lösungen stellt sich die Frage, welche Strategie Sinn macht – Integration mit SAP oder Best-of-Breed mit Drittanbietern? SAP-eigene Softwaretools haben gegenüber externen Lösungen zahlreiche Vorteile (sei es Richtung gemeinsame Stammdaten oder Datentransfer), auch wenn es natürlich viele Standardschnittstellen von SAP zu anderen Lösungsanbietern gibt.
Aus Integrationssicht ist es also durchaus sinnvoll, möglichst breitflächig auf SAP-Lösungen zu setzen. Effizienz- bzw. kostentechnisch sieht das Bild mitunter anders aus. Spezialanbieter übertreffen mit ihren Tools und Lösungen oft SAP-Funktionalitäten oder bieten Vorteile, die SAP-Lösungen nicht liefern. Darüber hinaus sind viele dieser (Cloud-)basierten Lösungen häufig einfach(er) zu bedienen und versprechen geringeren Ressourcenaufwand. Ohne eine Generalisierung vornehmen zu wollen: Kleine flexiblere und spezialisiertere Unternehmen sind häufig reaktionsschneller im Service und bei Änderungen als ein Großkonzern wie SAP. Letzterer hat dafür den längeren Atem, die größere Schlagkraft, die größeren Ressourcen für Weiterentwicklungen und die integriertere Gesamtlösung.
Gesamt-IT im Blick
Ob nun alles im SAP-Umfeld gemacht wird oder bei Spezialthemen mit anderen Lösungen, es sind weitere Faktoren zu berücksichtigen: Wo docken die Systeme an, wie häufig wechselt man zwischen Cloud und On-Premise? Gibt es das notwendige Know-how im Unternehmen? Wie wichtig ist die Drittlösung für die Leistungserstellung – ist es eine Kernfunktionalität oder ein Add-on? Und natürlich sind die Kosten und das Lizenzmodell relevant, und wie das alles in die künftige IT-Landschaft passt.
Ein integriertes ERP-Backbone ist ein wesentliches Asset zur Digitalisierung der Prozesse, um eine einheitliche Basis – im Idealfall nah am Standard – zu schaffen. Darüber hinaus geht es aber ums gesamte Setting, das den Markterfolg eines Unternehmens maximal unterstützt. Und natürlich um die entsprechende Flexibilität für Änderungen und Erweiterungen, die künftig zu erwarten sind. Die digitale Zeitenwende trifft nicht nur das ERP-System. Die Business-Transformation sollte daher unabhängig von einzelnen Tools und Marktentwicklungen betrachtet werden. Wer den nächsten Step-Change schaffen will, muss die gesamte IT-Landschaft im Auge behalten.
Zur Person
Dr. Peter Schentler ist Partner bei der Managementberatung Horváth in Wien und Spezialist für CFO-Beratung. Er betreut seit Jahren komplexe Transformationsprojekte im internationalen Umfeld.
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