Sonntag, Dezember 22, 2024



Immersives Lernen gilt als das Bildungsformat der Zukunft. In den Produktionshallen der Industrie und in der Medizin haben sich die innovativen Methoden längst bewährt.

Unterricht zu einem tatsächlich »unvergesslichen« Erlebnis zu machen – das gelingt auch ambitionierten Lehrkräften nur selten. Neue Informationen werden erschreckend schnell wieder verdrängt. Können Lerninhalte aber mit allen Sinnen erfasst werden, bleiben sie besser im Gedächtnis haften. Mit Technologien wie Augmented und Virtual Reality ist es möglich, in ein Thema völlig »einzutauchen« und durch die interaktive Tätigkeit zu »begreifen«. Immersive Lernsimulatoren waren früher sehr kostspielig und deshalb Spezialausbildungen, etwa in der Luft- oder Raumfahrt, vorbehalten.

Heute haben AR & VR den gesamten Bildungsmarkt erobert. Besonders in der Lehrlingsausbildung im Industriebereich sorgt das Lernformat für einen messbaren Mehrwert. Statt im Seminarraum einem Vortrag zu lauschen, stehen die Auszubildenden mitten im dreidimensionalen Geschehen und können das vermittelte Wissen gleich praktisch anwenden. Das Setting erinnert an Videospiele und spricht deshalb vor allem junge Leute an. Auch die Ergebnisse stimmen positiv: Die Ausbildung wird vielseitiger und attraktiver, die Mitarbeiter*innen sind durchwegs motivierter als bei klassischen Lernmethoden und der Lernerfolg erscheint nachhaltiger.

Das Halleiner Unternehmen Polycular entwarf für die Salzburg AG einen Escape-AR-Room, in dem Schüler*innen die Themen Energie, Mobilität, Wasser und Telekommunikation auf spielerische Art erfassen können. Das interaktive Workshop-Konzept wurde 2020 mit dem Constantinus Award ausgezeichnet. »In Energized AR geht es darum, mit Digital Natives in einen zeitgemäßen Dialog über zukünftige Probleme und Herausforderung zu kommen, erklärt Thomas Layer-Wagner, Gründer von Polycular. »Fakten und Wissen vermittelt durch Expert*innen sind sicher wichtig, um mehr über den Klimawandel oder Verkehrskonzepte der Zukunft zu erfahren. Lernen bedeutet aber auch, etwas selbst zu erleben, im Team zu arbeiten und vor allem, Herausforderungen zu meistern.«



Informationen, die interaktiv erlebt und erarbeitet werden, bleiben besser im Gedächtnis haften.
 

Für zwei weitere, VR-basierte Projekte sicherte sich Polycular eine Förderung der Forschungsförderungsgesellschaft FFG. Im »Virtual Skills Lab« können soziale Kompetenzen in Konfliktsituationen geübt werden, indem man im virtuellen Raum einem aufgebrachten Avatar gegenüber steht. Mit dem »CoBot Studio« wurde eine Simulationsumgebung geschaffen, in der die Zusammenarbeit mit kollaborativen Robotern trainiert werden kann. 

Üben ohne Risiko

Die Transformation in der Arbeitswelt verlangt nach einer neuen, innovativen Lernkultur – die Pandemie hat dieser Entwicklung einen zusätzlichen Schub gegeben. Das Lehren, Lernen und Üben erfolgt zunehmend digital und mobil, also unabhängig von Zeit und Raum. Unternehmen, deren Standorte über den gesamten Erdball verstreut sind, wissen inzwischen die Möglichkeit, ihre Mitarbeiter*innen in einem virtuellen Raum zusammenzubringen, zu schätzen.

Im Technikbereich kann der Zusammenbau und die Wartung von hochsensiblen Maschinen geübt werden, ohne das Risiko von Verletzungen oder Beschädigungen einzugehen. Auch in der Medizin werden komplizierte Eingriffe vorab am virtuellen 3D-Modell geprobt, um Operationsfehler zu verhindern, aber auch um z. B. bei Transplantationen die Abläufe optimal abzustimmen. Das Tiroler Start-up Innerspace stellt Life-Science-Unternehmen virtuelle Trainingsumgebungen zur Verfügung, in denen medizinisches Personal simulierte Schlüsselmomente in kritischen Tätigkeitsbereichen, etwa in Reinräumen, trainieren kann. Mit Hilfe dieser Trockenübungen lernen Mitarbeiter*innen, sowohl mit Stresssituationen wie auch mit monotonen Aufgaben umzugehen.

Die Wiener Linien setzen seit 2019 AR & VR bei Wartungen und in der Lehrlingsausbildung ein. Das Wiener Start-up 3Dmacher entwickelte ein virtuelles Training, das den Mitarbeiter*innen neben den richtigen Arbeitsabläufen auch die Konsequenzen von Fehlern aufzeigt. Um beispielsweise den Stromabnehmer einer U-Bahn millimetergenau zu montieren, muss jeder einzelne Handgriff sitzen. Die Arbeitsanweisungen werden in das Sichtfeld der AR-Brille eingeblendet.

Die Wiener Linien treiben den Technologiewandel konsequent voran: »Aufgrund des bevorstehenden Generationenwechsels in unserem Unternehmen und den neuen hochkomplexen Fahrzeugen – Stichwort vollautomatische U5 – werden die nächsten zehn Jahre noch spannender«, sagt Andreas Kollegger, Stabstellenleiter Strategische Planung. Augmented Reality soll künftig auch in der Qualitätssicherung eine große Rolle spielen.

Die Wissensvermittlung muss nicht beim eigenen Unternehmenstor enden, wie Festo, Global Player in der Automatisierungstechnik, vorzeigt. Das Familienunternehmen bietet Kunden mit einer eigens entwickelten AR-App Unterstützung bei der Inbetriebnahme des mechatronischen Lernsystems auf dem Tablet oder Smartphone. Mit Hilfe von speziellen Markern können zusätzliche Informationen wie Datenblätter oder Videos des Produktionsablaufs abgerufen werden. Auch Mixed Reality und Virtual Learning sind Teil des Portfolios der Unternehmenssparte Festo Didactic. 

Transmediale Erlebniswelten

Die Förderung der Problemlösungskompetenz und eine neu gewonnene Fehlerkultur sind Nebenprodukte der interaktiven und immersiven Trainingsmodelle. Sie zählen aber zu den wichtigen »Skills for the Future« – jener Zukunftskompetenzen, die im Kontext der digitalen Transformation eine erhebliche Aufwertung erfahren, während jederzeit abrufbares, reines Faktenwissen an Bedeutung verliert. »In modernen Wissensgesellschaften kann kein Zweifel mehr daran bestehen, dass die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit nur durch eine technologieunterstützte, kontinuierliche Qualifizierung und lebenslanges Lernen gesichert werden kann«, meint Peter Niermann, Gastprofessor an der TU München und Gründer des Corporate-Learning-Spezialisten straightlabs.



Automatisierungsspezialist Festo hat die Unternehmenssparte Didactic mit XR-Angeboten erweitert. 

Die technischen Möglichkeiten für interaktive 3D-Echtzeit-Simulationen mit packendem Storytelling gibt es bereits. Die Nutzer*innen übernehmen die Identität eines Avatars und bestimmen durch ihre Entscheidungen den Verlauf des Geschehens – egal, ob es sich um ein Verkaufsgespräch, einen Changeprozess oder die Präsentation eines neuen Produkts handelt. Case Studies mit diesem ganzheitlichen Zugang zeigen vielsprechende Resultate. Bis faszinierende transmediale Lernerlebniswelten den Frontalunterricht in den Schulen ablösen, wird es vermutlich noch dauern.


Interview: »Wissen schnell und effizient lehren«

In der Aus- und Weiterbildung haben virtuelle Technologien bereits einen festen Platz eingenommen, weiß Christian Speiser, Mitgründer und technischer Direktor der Augmented & Virtual-Reality-Agentur 3Dmacher.

Christian Speiser und das Team von 3Dmacher entwickelten für die Wiener Linien virtuelle Trainingsmodelle.

(+) plus: In welchen Bereichen werden AR & VR künftig eine größere Rolle spielen?

Christian Speiser: In den letzten Jahren zeichnet sich klar ein Trend Richtung Aus- und Weiterbildung mit Hilfe von Augmented und Virtual Reality ab. Wer frisch in einem Job beginnt, muss oft sehr viel Wissen in kurzer Zeit verarbeiten und fehlendes Wissen kompensieren. Oft ist dafür zu wenig Zeit, weil das Tagesgeschäft im neuen Unternehmen weitergeht und Deadlines eingehalten werden müssen. Um die zukünftigen Kolleg*innen auf die Reise in die Digitalisierung mitnehmen zu können, müssen neue Wege gefunden werden, Wissen schnell und effizient zu lehren. In manchen Teilbereichen der Industrie erfolgt das Onboarding der Mitarbeiter*innen schon komplett in der virtuellen Welt.

(+) plus: Welche Vorteile bringt die Technologie?

Speiser: Mit Augmented und Virtual Reality kann der Lehrstoff effizienter und praxisnäher erlernt werden und kostbares Praxiswissen in die Erstellung der Trainings einfließen. Damit stehen den Firmen neue Mitarbeiter*innen rascher als vollwertige Arbeitskräfte zur Verfügung als bisher. Ein gutes Beispiel, wie man neue Technologie in bestehende Unternehmensstrukturen einbettet, sind die Wiener Linien, die AR und VR seit 2019 erfolgreich in der Lehrlingsausbildung einsetzen. In Zukunft wird diese neue Technologie noch stärker für Sicherheitsschulungen, Wartungen und (Lehrlings-)Ausbildung ausgebaut. Augmented Reality soll auch in der Qualitätssicherung von Bus, Bim und U-Bahn Anwendung finden. Dadurch könnten Öffis in Zukunft noch zuverlässiger werden.

(+) plus: Ist noch ein technologischer Entwicklungsschub notwendig?

Speiser: Bei Augmented Reality definitiv, wünschenswert wäre ein breiteres Sichtfeld und eine bessere Darstellungsqualität des überlagerten AR-Contents. Bei Virtual Reality hat sich die Auflösung der verbauten Displays über die Jahre so stark verbessert, dass bei den Topgeräten nahezu kein pixeliges Fliegengitter mehr zu sehen ist. Auch der Sichtbereich in der Brille (FOV) wird besser, was ebenfalls positiv zur Immersion beiträgt. Die Integration von Hand- und Eye-Tracking runden die positiven Entwicklungsschritte der letzten Jahre ab. 

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