Samstag, Dezember 21, 2024
Der Blick in die Glaskugel

Selten zuvor war der Blick in die Zukunft so spannend wie heute. Report(+)PLUS hat vier renommierte Zukunftsforscher um ihre Einschätzung gebeten, was von Corona bleibt und ob es jemals wieder ein Leben wie vor Corona geben wird?


Soziale Achtsamkeit macht unsere Welt resilienter
Von Andreas Reiter



Auch aktuell, im nun dritten Jahr der Pandemie, tappen wir als Gesellschaft in großer pandemischer Ungewissheit. Das Unvorhersehbare regiert: keiner weiß, jeder hofft – vor allem, dass die Pandemie möglichst rasch übergeht in eine Endemie, in der die Infektion nur mehr lokal auf niedrigem Niveau zirkuliert. Diese Hoffnung ist überlebenswichtig – denn ohne ein kraftvolles positives Bild der Zukunft können wir die vielen (wirtschaftlichen, sozialen etc.) Einschränkungen nicht gut bewältigen.

Eine wirklich zukunftsrobuste Gesellschaft braucht aber auch eine vorausschauende, präventive Grundhaltung – und damit ein intelligentes Frühwarnsystem. Denn diese Krise wird nicht die letzte gewesen sein. Schließlich ist alles mit allem interdependent, z. B. Gesundheit und Umwelt. So sind künftig etwa mehr Zoonosen – also vom Tier auf den Menschen übertragene Krankheiten (wie das aktuelle Covid-19-Virus) – aufgrund umweltbedingter Krisen (abgeholzte Wälder, massive Bodenerosionen etc.) zu erwarten.

Gesellschaftlicher Stresstest

Die Pandemie ist ein Stresstest – vor allem in gesellschaftlicher Hinsicht. Ängste, Gereiztheit und Radikalisierung nehmen zu, selten zuvor war das Immunsystem unserer Gesellschaft so angegriffen: 21 Prozent der Österreicher leiden unter Depressionen (OECD, Health at a Glance), jeder vierte junge Mensch leidet unter psychischen Problemen (Allianz Jugendstudie). Mehr denn je verankert sich Gesundheit – im holistischen Sinn – ganz oben im gesellschaftlichen Werte­set, verändert Konsum- und Freizeitverhalten, treibt neue Märkte voran.

Generell bestimmen soziale Themen den postpandemischen Diskurs von morgen – von fairer Entlohnung (speziell im Dienstleistungsbereich, etwa in der Gastronomie) über Mental Health und Resilienzstrategien bis zu neuen attraktiven Arbeitsmodellen für die Generation Z (z. B. die Vier-Tage-Woche). Denn jetzt geht’s nicht nur um Produkte, sondern auch um Prozesse, nicht nur um Performance, sondern auch um Resilienz, weniger um Hardware als vor allem um die Software: Menschen und ihre Beziehungen.

Welt wird resilienter

Diese neue soziale Achtsamkeit passt in die nachhaltige Transformation unserer Gesellschaft: Kreislaufwirtschaft, Gemeinwohlorientierung u. a. machen unsere fragile Welt resilienter. War dieser regenerative Umbau bislang von oben (EU-Politik mit Green Deal u. a., Green Finance) diktiert, so wird er nun immer stärker auch von unten (Postmillenials) vorangetrieben.

Gleichzeit wird unser Leben digitaler und smarter. In der flüssigen Moderne verschmelzen analoge und virtuelle Welten immer mehr. Mit dem aufkommenden Metaverse spannen gerade Meta (ex Facebook), Microsoft und Co. eine virtuelle Welt auf, in der wir Menschen, Unternehmen und Organisationen demnächst über 3D-Avatare und in virtuellen Räumen interagieren. Eine neue dreidimensionale bunte Arbeitswelt poppt auf, in der wir uns von Avatar zu Avatar grüßen – und bald schon holografisch mit einander kommunizieren.

Der Autor: Andreas Reiter ist Gründer des ZTB Zukunftsbüros und Referent und Keynote-Speaker bei internationalen Kongressen und Tagungen sowie Lehrbeauftragter für TrendManagement an der Donau-Universität Krems und am MCI in Innsbruck.
Link: www.ztb-zukunft.com


»Ich plädiere für ein zukunftsfähigeres Krisenverständnis«
Von Reinhold Popp



Seit dem Beginn der Finanzkrise (2008) befinden sich viele Menschen in einem permanenten Krisenmodus. 2015 folgte die sogenannte Flüchtlingskrise, und in den vergangenen zwei Jahren sorgte die Coronakrise für Leid und Tod, für die Überlastung des Gesundheitssystems und für eine gebremste Wirtschaftsdynamik. Außerdem verschärften sich die bereits vor der Pandemie existierenden gesellschaftlichen Spaltungen. Parallel zu diesen zeitlich befristeten Krisen schwelte und schwelt die noch sehr langfristig andauernde Klimakrise. Sowohl diese moderne Krisenserie als auch der Rückblick auf die wechselvolle Menschheitsgeschichte untermauern die vorausschau-ende Vermutung: »Die nächste Krise kommt bestimmt!«

Mehr Zuversicht, weniger Zukunftsangst

Krisen weisen jedenfalls darauf hin, dass die Fortsetzung bisheriger Erfolgsstorys keineswegs selbstverständlich ist. Zur Vorbereitung auf zukünftige Krisen empfehle ich ein komplexeres Krisenverständnis mit mehr Zuversicht und weniger Zukunftsangst. Im alltäglichen Sprachgebrauch klingt ja das Wort Krise wie eine gefährliche Drohung. Im Altgriechischen hingegen war Krisis ein neutraler Begriff für den Wendepunkt in einem Entwicklungsprozess. So gesehen kann sich das Leben nach einer Krise sowohl positiv als auch negativ entwickeln.

Krisen können uns zum schmerzlichen Abschied von lieb gewonnenen Gewohnheiten zwingen, aber ebenso alternative Lösungen für alte Probleme und neue Herausforderungen hervorbringen. Dies gilt auch für die Coronakrise. Zu den negativen Ergebnissen der Pandemie-Bilanz werden z.B. mehr Depressionen, viele Firmenpleiten und hohe Staatsschulden zählen.

Gleichzeitig könnten aber manche Erfahrungen mit pandemiebedingten Notfallmaßnahmen nach dem Ende der Coronakrise einige zukunftsweisende Innovationen erleichtern, z. B. die Beschleunigung des digitalen Wandels, die Renaissance der sozialen Marktwirtschaft und der Sozialpartnerschaft, die Modernisierung des Bildungssystems, mehr Resilienz und Krisenvorsorge bei Individuen, Institutionen und Unternehmen, sowie das verstärkte Engagement der Wissenschaft für die allgemein verständliche öffentliche Präsentation ihrer Erkenntnisse. Denn an der weiten Verbreitung von wissenschaftsfernen Mythen zur Coronaimpfung bewahrheitet sich ein berühmter Sinnspruch der österreichischen Dichterin Marie von Ebner-Eschenbach: »Wer nichts weiß, muss alles glauben.«

Individualistisches Demokratieverständnis

Außerdem verdeutlichten manche Argumente in wilden Corona-Streitgesprächen, dass allzu viele Bürgerinnen und Bürger ein sehr individualistisches Demokratieverständnis haben. Diese Überbetonung der eigenen Interessen drängt die Rücksicht auf die Gesundheit und Sicherheit der Mitmenschen in den Hintergrund. Dabei wird zu wenig beachtet, dass unsere erfreulich vielfältige Multioptionsgesellschaft nur dann zukunftsfähig und krisenfit sein kann, wenn möglichst viele Menschen ihre persönliche Freiheit ganz selbstverständlich mit der Verantwortung für den sozialen Zusammenhalt verknüpfen.

Der Autor: Reinhold Popp ist Professor für Zukunfts-und Innovationsforschung, leitet das »Institute for Futures Research in Human Sciences« an der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien und ist Gastwissenschaftler an der Freien Universität Berlin. Er ist Autor einer Vielzahl von wissenschaftlichen Publikationen, Berater von Politik und Wirtschaft, gefragter Key-Note-Speaker sowie Experte im medialen Zukunftsdiskurs.
Link: www.reinhold-popp.at


Trotz Krise: 2022 wird besser als das Vorjahr
Von Horst Opaschowski



2022 wird ein Jahr der Hoffnung sein. Die Bevölkerung hätte eigentlich allen Grund, mit Sorge in das neue Jahr zu schauen: eine ernste Pandemielage, der höchste Preisanstieg seit fast dreißig Jahren und prekäre Zukunftsaussichten mit drohenden Wohlstandsverlusten für die nächste Generation. Doch trotz krisenhafter Entwicklungen im ganzen Land ist die Bevölkerung davon überzeugt: Das Jahr 2022 wird besser als das Vorjahr. Insbesondere die junge Generation erwartet bessere Zeiten und sieht dem kommenden Jahr mit Zuversicht und Optimismus entgegen.

Die wirtschaftlichen Sorgen werden geringer, aber die Angst vor Wohlstandsverlusten bleibt

Fast zwei Jahre im Krisenmodus. Die Bürger bekommen die Folgen der Pandemie zu spüren und sorgen sich um die persönliche wirtschaftliche Lage. Doch der Anteil, der über wirtschaftliche Sorgen klagt, wird geringer. Ein fürsorgender starker Staat hat sich offensichtlich bewährt. Allerdings bleibt die Gesellschaft weiter gespalten. Am meisten leiden die Geringverdienenden darunter, am wenigsten die 65-plus-Generation. Die Rentnergeneration fühlt sich mehrheitlich materiell gut abgesichert. Die Angst vor einer ungewissen Zukunft bleibt aber für sie und einen Großteil der Bevölkerung weiter bestehen.

Wir befinden uns derzeit mitten in einer Stagflation zwischen schwächelnder Konjunktur und steigenden Preisen. Zukunftsungewissheit schwebt als Damoklesschwert über der ganzen Gesellschaft. Die Bevölkerung ist davon überzeugt: Für die nächste Generation wird es, wenn die Krise weiter anhält, viel schwieriger, ebenso abgesichert und im Wohlstand zu leben, wie die Elterngeneration heute.

Bescheidener leben – wollen oder müssen? Die Krise verändert die Lebenseinstellung

Während der Pandemie haben die Menschen mehr über sich und ihr Leben nachgedacht: Was ist wichtig und was nicht? Mehrheitlich kann die Bevölkerung von sich sagen: »Die Coronakrise ändert meine Lebenseinstellung. Im kommenden Jahr werde ich beim Konsumieren und Geldausgeben maßvoller und bescheidener sein.« Frauen zeigen sich für diesen Einstellungswandel merklich aufgeschlossener als Männer.

Die Frage ist noch völlig offen, ob es in naher Zukunft wirklich einen stabilen Trend zur neuen Bescheidenheit geben wird. Viele Anzeichen sprechen dafür, dass sich die meisten Bürger für ein bescheideneres Leben und einen Konsum nach Maß aussprechen – nicht weil sie es wollen, sondern weil sie sparen müssen. Die größte Zustimmung für einen bescheideneren Lebensstil ist bei den Geringverdienern anzutreffen.

Bescheidener leben als Konsumbremse stellt also keine neue Tugend freiwilligen Verzichts dar, ist eher eine Notmaßnahme, weil es in vielen Haushalten an Geld mangelt und gespart werden muss. Ein grundlegendes Umdenken in der Konsumhaltung zum »Weniger ist mehr« findet auf breiter Ebene (noch) nicht statt. Wenn aus Kauflust Kaufzurückhaltung wird, dann hat das mehr mit Vorsicht als mit Verzicht zu tun. 

»Glück im Unglück« ist das Gefühl der Stunde 

Die Zukunft hat zwei Gesichter, in denen sich Sorge und Freude die Waage halten. Es dominiert ein skeptischer und vorsichtiger Optimismus. Inmitten der Krise wird hoffnungsvoll der Silberstreifen am Horizont gesucht. Ganz persönlich ist für die Bevölkerung »Glück im Unglück« das Gefühl der Stunde: Es hätte schlimmer kommen können – die Lage bessert sich. Es ist die Fähigkeit, selbst in Krisenzeiten dem Leben irgendwie eine positive Seite abzugewinnen, das Beste aus dem eigenen Leben zu machen und auch gesellschaftlich und politisch Fortschritt zum Besseren zu erwarten.

Der Autor: Prof. Dr. Horst Opaschowski ist Gründer und Leiter des Opaschowski Instituts für Zukunftsforschung (O.I.Z) in Hamburg. Als »Mr. Zukunft« (Deutsche Presseagentur/dpa) und »Futurist« (XINHUA/ Chinesische Nachrichtenagentur) berät er international Wirtschaft und Politik. Aktuell ist gerade sein neues Buch »Die semiglückliche Gesellschaft« im B. Budrich Verlag (Opladen, Berlin, Toronto) erschienen.
Link: http://www.oiz-hamburg.de/


Corona als Zukunftsturbo?
Von Peter Zellmann



Zum Jahreswechsel werden Zukunftsforscher bzw. alle die sich als solche bezeichnen regelmäßig um ihre Prognosen gebeten. Dabei haben sich vier Typen bzw. Grundmuster herauskristallisiert. Klar, dass für 2022 Corona in den meisten Prognosen dominiert.

1. Die Phrasendrescher, die – ähnlich den politischen Neujahrsansprachen – Jahr für Jahr zu unwiderlegbar vernünftigen Werthaltungen aufrufen, die sich dann freilich nie erfüllen, daher aber Jahr für Jahr erneut eingefordert werden können.

2. Die Fast-Alles-Wisser, die ebenso unwiderlegbar darlegen, was sich alles in den nächsten Jahren und Jahrzehnten ganz grundsätzlich in unseren Lebensstilen ändern wird. Ihre Prognosen sind selten eingetroffen. Sie werden aber in der Regel auch nie überprüft.

3. Die »Alles wird gut«-Apostel, die sich im vorauseilenden Gehorsam dem wünschenswerten Mainstream von Politik und Wirtschaft andienen. Meist dominiert dabei der Wunsch als Vater des Gedankens und damit der Vorausschau. Das ist vor allem gut verkaufbar.

4. Die Zukunftswissenschaftler, die weniger prognostizieren und mehr Entscheidungsgrundlagen anbieten, weil letztlich niemand wissen kann, was die Zukunft bringt. Es geht ihnen daher um mögliche Antworten auf die entscheidenden Fragen: Welche Zukunft können wir, und welche wollen wir haben. Wissenschaft stellt in erster Linie Fragen. Antworten muss die Politik finden – und geben.

Es wird Sie jetzt nicht überraschen, wenn ich mich der letzten Gruppe zugehörig und verpflichtet fühle.  Wer sich in den letzten beiden Jahren intensiv – also beruflich täglich (!) mehrere Stunden – mit der Pandemie und deren gesellschaftlichen »Nebenwirkungen« auseinandergesetzt hat, könnte mit Blick auf das nächste Jahr zu folgenden Schlussfolgerungen kommen:

Wie in meinen Publikationen schon im August 2020 beschrieben, wird uns die Pandemie noch lange beschäftigen, wir werden aber im Lauf des kommenden Jahres lernen mit dem und nicht gegen das Virus zu leben. Das wird entgegen den Entwicklungen in den letzten beiden Jahren die entscheidende Veränderung sein.

Die zentralen Herausforderungen

Es muss gelingen den wissenschaftlichen Diskurs von Befürwortern, Kritikern und Gegnern der politischen Maßnahmen unaufgeregt und evidenzbasiert wieder zuzulassen und aufzunehmen. Damit meine ich nicht nur den medizinischen Teil der Wissenschaft, sondern alle ihre gesellschaftlich relevanten Bereiche. Ein weitgehender Konsens von Medizin, Ökonomie, Soziologie, Pädagogik usw. muss die selbstgewählte Aufgabe jedes verantwortungsbewussten Wissenschaftlers sein. Diese herzustellende Gemeinsamkeit ist mit dem Leitbegriff »Public Health« treffend zusammengefasst. Nur sie kann die Grundlage für politische Entscheidungen sein. Und diese Schlussfolgerungen werden unsere nahe Zukunft mehr beeinflussen als viele andere politische Sachentscheidungen.

Lerneeffekte durch Corona

Aus Corona können wir viel lernen. Kein Nachteil ohne Vorteil. Der für viele von uns gezwungenermaßen nach innen gerichtete Blick der letzten Jahre brachte viel an positiven Einsichten. Bedingungsloses Wachstum (immer mehr), Eile und Oberflächlichkeit hatten weitgehend Pandemiepause. Der Erlebnisraum Natur war für viele der einzige Raum für Aktivitäten. Wir lernten für die Zukunft bewusster zu leben, die Umwelt besser zu beachten und sich mehr Zeit für die wirklich wichtigen Dinge zu nehmen: Partner, Familie, Freunde und soziale Netzwerke.
Das alles kann die Zukunft bringen, das alles können wir von Corona gelernt haben – wenn auch Politik und Wirtschaft bereit sind zu lernen.

Der Autor: Prof. Mag. Peter Zellmann ist seit 1987 Leiter des Wiener Instituts für Freizeit- und Tourismusforschung (IFT). Im Rahmen dieser Tätigkeit widmet sich Peter Zellmann vor allem der empirischen Sozial- und Zukunftsforschung in den Bereichen Lebensstile, Arbeit und Freizeit. Außerdem ist er als Wirtschafts- und Politikberater tätig. Im Rahmen seiner Forschungsarbeit hat Peter Zellmann zahlreiche Vorträge gehalten und Publikationen veröffentlicht.
Link: www.zellmann.net

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