Die Briten haben entschieden. Während die neue Premierministerin Theresa May um glimpfliche Austrittsmodalitäten ringt, wollen die EU-27 Großbritannien den Abschied so bitter wie maöglich machen, schon allein um potenzielle Nachahmer abzuschrecken. Denn verstummt ist die Kritik an Brüssel auch in den anderen Mitgliedsstaaten keineswegs, auch wenn die Folgen des Brexit kaum absehbar sind. Report(+)PLUS hat bei ExpertInnen nachgefragt, wie sie die Zukunft Europas einschätzen.
1. Sehen Sie den Finanzplatz London in Gefahr?
Friedrich Mostböck, Head of Group Research, Erste Bank AG
Längerfristig ja. Es hatten ja unmittelbar nach der Ankündigung des Brexit schon bereits Banken ihr Abwandern erklärt. Auf der anderen Seite sind Alternativ-Finanzzentren (allen voran Frankfurt) naturgemäß daran interessiert, Geschäft anzuziehen. Ich denke, die Voraussetzungen (wie Infrastruktur, etc.) wären vorhanden bzw. weiter ausbaufähig. Gleichzeitig gibt es in London eine Reihe anderer Institutionen, die als Folgeerscheinung abwandern würden und welche einen Bezug zum Bankensektor haben (wie die EBA, European Banking Authority). Ebenso wäre zu erwarten, dass das Euro-Clearing-Geschäft dem Wunsch der EZB entsprechend zukünftig in der Euro-Zone abgewickelt wird.
Gerda Falkner, Leiterin des Instituts für europäische Integrationsforschung, Universität Wien
Die Reaktionen auf das Brexit-Votum waren negativ. Da London als Hauptsitz vieler Banken mit Europa-Geschäft in Frage steht, ist die seither eingetretene Beruhigung fragil. Generell ist infolge ihrer internationalen Verflechtung für Investmenthäuser und Banken in der EU die Risikowahrnehmung gestiegen. Noch schwerer als die ökonomischen Folgen des Brexit-Referendums werden aber die politischen wiegen: Die EU ist durch die Macht der Regierungen ohnehin blockadeanfällig, jetzt drohen Jahre des Stillstands mit Einbrüchen der Wirtschaft und Legitimität durch mangelnde Problemlösungsfähigkeit, fragwürdige Mitbestimmung Großbritanniens in den Gremien, etc.
Thomas Obersteiner, Rechtsanwalt in der Kanzlei Baker & McKenzie, London
Teilweise. Die EU könnte London bestimmte Euro-Finanzdienstleistungen untersagen. Teile des Sektors könnten dann nach Frankfurt oder Paris abwandern. Aber: Londons Stellung als globaler Finanzplatz per se ist nicht in Gefahr. Das vorhandene Know-how, die Liquidität und die Netzwerke lassen sich nicht so einfach verschieben. Die »City« könnte unter Umständen sogar an Bedeutung gewinnen, wenn sie die neue regulatorische Freiheit geschickt nutzt, um ein für Banken attraktives Umfeld zu schaffen.
2. Was bedeutet das Votum für österreichische Unternehmen, die in Großbritannien tätig sind?
Friedrich Mostböck
Wenig. Natürlich sind einige Unternehmen in Großbritannien engagiert bzw. wären exportlastige Unternehmen indirekt über einen Wirtschaftseinbruch in der Euro-Zone betroffen. Von größeren Unternehmen ist im Wesentlichen direkt Wienerberger betroffen. Das Risiko ist aber auch dort überschaubar und überbewertet. Wienerberger erwirtschaftet etwa 10 % des Umsatzes in Großbritannien, hatte diese Vor-Ort-Produktion in britischen Pfund aber immer schon für lokale Kunden. Der Rest ist im relativen Vergleich eher vernachlässigbar.
Gerda Falkner
Eine Phase der Unsicherheit. Das gilt aber auch für Unternehmen anderswo: Im EU-Binnenmarkt herrschten zumindest ansatzweise faire Wettbewerbsbedingungen – das könnte sich zum allseitigen Schaden ändern, falls es künftig zu einem unkontrollierten Standortwettbewerb kommt. Noch schlimmer ist die Unsicherheit aber für die MitarbeiterInnen dieser (und anderer) Unternehmen, wenn sie aus der EU kommen. Theresa May, neue Premierministerin Großbritanniens, will das Schicksal der EuropäerInnen in ihrem Land als Verhandlungsmasse einsetzen. Auch wenn die EU dem das Schicksal der britischen BürgerInnen in der EU entgegenhalten kann, sind jetzt viele Menschen in einer unsicheren Lage.
Thomas Obersteiner
Die Abwertung des Pfunds und die drohende Rezession der britischen Wirtschaft sind die unmittelbarsten Folgen. Die rechtlichen Folgen werden sich erst im Zuge der Verhandlungen über die zukünftigen Wirtschaftsbeziehungen genau bestimmen lassen. Unternehmen mit spezifischen Interessen in Großbritannien sollten den Verhandlungsprozess genau beobachten und sich gegebenenfalls einbringen. Vorsichtshalber sollten Verträge mit UK-Bezug schon jetzt auf mögliche Brexit-Folgen, zum Beispiel die Einführung von Handelszöllen, geprüft werden.
3. Zerfällt die Euro-Zone?
Friedrich Mostböck
Das ist teilweise in die Kategorie »Verschwörungstheorie« einzuordnen. Aus der EU auszutreten, ist die eine Sache, aus der Euro-Zone auszutreten ist technisch wie wirtschaftlich und geldpolitisch schon deutlich schwieriger. Was der Brexit mit Sicherheit für die EU (und nicht Euro-Zone) bewirken wird, ist politischer Druck sowie Druck zur Reformwilligkeit.
Gerda Falkner
Das muss nicht sein, ist aber möglich als Folge zunehmender ökonomischer und politischer Fliehkräfte. Die Herausforderungen sind für einzelne Volkswirtschaften unterschiedlich, ebenso die Wirkungen der EZB-Politik. Zusätzlich stiftet der sich verbreitende Populismus Unfrieden, der – wie im Vorfeld des Brexit – teils sogar Lügen als Mittel der politischen Propaganda einsetzt. »Nationale« Interessen werden zunehmend gegen das Allgemeininteresse gesetzt, obwohl die großen Probleme der Zeit eigentlich nur gemeinsam sinnvoll bewältigt werden können.
Thomas Obersteiner
Nein – zumindest nicht wegen des Brexit. Das Votum und ein allfälliger EU-Austritt Großbritanniens haben zwar negative Auswirkungen auf die Euro-Zone, bedrohen die gemeinsame Währung aber nicht unmittelbar. Die nachhaltig schlechte Wirtschaftslage und strauchelnden Banken in großen Euro-Staaten, insbesondere in Italien, sind bedrohlicher. Zum Glück ist Großbritannien nicht Mitglied der Euro-Zone. Ein EU-Austritt eines Euro-Staates dieser Größe wäre eine enorme organisatorische Herausforderung und könnte auch ihr Ende bedeuten.