Donnerstag, November 28, 2024

Plastik in Schokoriegeln, Metallspäne im Mehl, kippende Möbel – Produktionsfehler können für Unternehmen teuer und existenzbedrohend sein, wenn das Krisenmanagement nicht rasch und professionell funktioniert.

Am 23. Februar 2016 startete der Lebensmittelkonzern Mars den größten Produktrückruf seiner Firmengeschichte. Eine deutsche Kundin hatte in einem Schokoriegel ein Plastikteilchen entdeckt, nachdem in einem niederländischen Werk eine Kunststoffabdeckung in die Schokomasse gefallen war. Der für seine Verschwiegenheit bekannte Konzern – neben Süßwaren wie Milky Way, Balisto und M&Ms umfasst das Sortiment auch Uncle Ben’s Reis und zahlreiche Tierfuttermarken wie Whiskas, Sheba und Chappi – ging in die Offensive und rief 40 Produkte in 55 Ländern zurück. Ein Mus­terbeispiel für vorbildliches Krisenmanagement? Keineswegs.

Anfänglich für die rasche Entscheidung im Sinne des Verbraucherschutzes gelobt, wurde angesichts der Bilder von den Bergen zurückgeschickter Schokoriegel Kritik an der überstürzten Aktion des Unternehmens laut. So merkte der Jurist Alfred Hagen Meyer an, dass aufgrund der Aufzeichnungen der Qualitätskontrolle die betroffenen Produkte leicht eingrenzbar und somit die Vernichtung so vieler Chargen überflüssig sein müsste: »Alles andere wäre nicht erklärbare und nicht hinzunehmende Lebensmittelverschwendung.« Möglicherweise kam hier die rigorose amerikanische Denkweise zum Tragen, die aus Schutz vor millionenschweren Klagen jede noch so kleine Eventualität ausschließen muss.

Für zusätzliche Verwirrung sorgte die Veröffentlichung unterschiedlicher Mindesthaltbarkeitsdaten von betroffenen Produkten, die Liste wurde mehrfach nachgebessert. »Die scheibchenweise Kommunikation hierzu seitens Mars ist schon für sich gesehen desaströs. Sie spricht gebotener Transparenz Hohn. Die Kommunikation hatte nicht nur kein Gesicht, sondern auch keine gemeinsame Sprachregelung«, kritisiert Meyer. Das folgenreiche Missgeschick in den Niederlanden war bereits zwei Monate zuvor passiert – an die Öffentlichkeit ging Mars aber erst, als eine Kundin reklamierte.

Auch dann gab es keine zentral gesteuerte Krisenkommunikation. Es blieb den jeweiligen Landesmanagern überlassen, die Konsumenten und Medien zu informieren. Das Top-Management in der US-Zentrale ging auf Tauchstation: für einen Weltkonzern – die Urenkelin des Firmengründers fungiert als Aufsichtsratschefin – beachtlich. Details über das Ausmaß der Panne tröpfelten somit spärlich, die eingerichteten Hotlines und Webserver brachen unter dem Ansturm verunsicherter Konsumenten zusammen. »Kommunikativ hat Mars den Rückruf ziemlich bescheiden gemanagt. Und hat damit sämtliche theoretische Chancen zum Aufbau von Reputation mehr verspielt als genutzt«, resümiert auch Klaus Weise, Geschäftsführer der Serviceplan Public Relations: »Die wenigen knappen Statements zur Sache stammen von Pressesprechern, deren Namen anscheinend nicht einmal genannt werden dürfen.« Als Entschädigung erhielten die Kunden, die ihre möglicherweise kontaminierten Schokoriegel selbst verpacken und zur Post bringen mussten, nicht einmal ihr Geld zurück, sondern ein kleines Warenpaket.

Langes Gedächtnis

Trotz der missglückten Krisenkommunikation dürfte Mars mit einem blauen Auge davongekommen sein. In einer Online-Umfrage der Markenberatung Prophet unter rund 1.000 deutschen Verbrauchern gaben 86 % an, weiterhin Produkte von Mars kaufen zu wollen. »Relevante und starke Marken kommen gerade auch aus Krisen ohne große Blessuren hervor«, bewertet Prophet-Partner Felix Stöckle das Ergebnis. Das Gedächtnis der Konsumenten ist lang. Wird das Problem glaubwürdig und verantwortungsvoll gemanagt, sind sie in der Regel aber nicht nachtragend. »Vertrauen kann man nicht einfordern. Man kann es nur durch einen guten Umgang und durch eine gute Kommunikation langfristig erreichen. Vertrauen ist nicht das Ziel, sondern der Weg«, sagt Frank Roselieb, Gründer der Internet-Plattform krisennavigator.de und Leiter des Instituts für Krisenforschung in Kiel. Je später und verhaltener ein Unternehmen öffentlich auftritt, desto gnadenloser sei es Gerüchten ausgeliefert, die sich im Internet rasant verbreiten. Roselieb analysierte in einer Langzeitstudie rund 100 Krisenfälle und wie Unternehmen darauf reagierten: »Nur in 15,6 % der Fälle kündigten sich die Ereignisse vorher durch ›schwache Signale‹ an. Anders formuliert: Fünf von sechs Krisen wurden sofort akut.«

Kluge Unternehmen sind für solche Krisenfälle mit Notfallplänen gerüstet und spielen mögliche Szenarien im Trockentraining durch. Auf sogenannten »Dark Sites« sind wichtige Informationen und vorbereitete Texte, die je nach Anlassfall mit aktuellen Fakten und Daten, Kontaktadressen und Ansprechpersonen ergänzt werden, gespeichert. Innerhalb kürzester Zeit können diese Seiten freigeschaltet werden. In Medientrainings üben Führungskräfte authentisches Auftreten vor der Kamera und lernen, wie man Botschaften passend platziert.

Mit dem ersten öffentlichen Statement kann das Unternehmen bereits wichtige Imagepunkte sammeln – oder aber jegliche Sympathie verspielen. Ein Unternehmensvertreter, der das Problem als Lappalie abtut und rigoros alle Schuld von sich weist, ansonsten aber keine näheren Auskünfte gibt, macht sich in der Öffentlichkeit verdächtig und unbeliebt. Beim Germanwings-Unglück stellte sich die Unternehmensspitze einer Pressekonferenz und gab ausführlich Auskunft über den bisherigen Ermittlungsstand und die weiteren geplanten Maßnahmen. Obwohl der Grund für den Absturz noch nicht bekannt war, färbte die Fluggesellschaft auf der Webseite ihr buntes Firmenlogo schwarz-weiß ein und schrieb »In deep sorrow« darunter. »Auch in der Rückschau war das perfekt«, befindet Roselieb, »es vermittelte sehr emotional und empathisch: Es tut uns wahnsinnig leid.«

Konkursgefahr

Jedes Unternehmen kann von einem Qualitätsmangel oder menschlichem Versagen betroffen sein. Abgesehen vom Imageschaden sind die Folgekosten durch Haftungen, den Rückruf von Produkten, deren Entsorgung und Ersatz sowie Umsatz- und Gewinnentgang mitunter enorm. Allein im österreichischen Lebensmittelhandel werden jeden Monat im Schnitt drei Produkte zurückgerufen. Nach Schätzung des Sozialministeriums gibt es in Europa jährlich insgesamt mehr als tausend Recalls. Davon betreffen die Automobilindustrie rund 150 Meldungen, ein Viertel Spielzeug, ein Fünftel Textilien. Durch die Zunahme von billiger Massenware, vor allem aus China, werden Rückrufe vermehrt durch gefährliche chemische Substanzen ausgelöst.

Nach dem Produktsicherungsgesetz (PSG) 2004 sind Hersteller, Importeure und Händler zu entsprechenden Maßnahmen verpflichtet, sobald von einem Produkt Gefahren ausgehen. Diese Maßnahmen sind den zuständigen Behörden zu melden. Die Österreichische Agentur für Ernährungssicherheit (AGES) stellt Produktwarnungen gemäß Lebensmittelsicherheits- und Verbraucherschutzgesetz (LMSVG) im Auftrag des Gesundheitsministeriums auf ihrer Webseite zur Verfügung. Rückrufkosten, Gewinnentgang und Wiederherstellungskosten sind versicherbar. »Produktrückrufe können bis zur Konkursgefahr führen«, betont Klaus Koban, Geschäftsführer der Koban Südvers Group Austria. Die Risikopalette reicht vom Rohstoffeinkauf über den Produktionsprozess, schadhafte Verpackungen, unterbrochene Kühlketten bis hin zu Sabotage und Terror.

Julia Fandler, die in vierter Generation die Ölmühle Fandler in Pöllau führt, konnte nur dank professioneller Hilfe und eines straff organisierten Krisenmanagements den Schaden begrenzen. Der steirische Familienbetrieb mit 40 Mitarbeitern erzeugt Öl, Essig, Kerne, Salz und Mehl in Bioqualität. Im heurigen April war ein Kunde plötzlich auf winzige Metallteile in einem der Mehle gestoßen – dass es sich um das einzige Produkt handelte, das Fandler an eine andere Mühle ausgelagert hatte, die im Unterschied zu Fandler keine Metalldetektoren einsetzte, entband das Unternehmen nicht von seiner Verantwortung: »Wir waren es, die das Mehl in Umlauf brachten, und es ist unser Name, der auf der Verpackung steht.« Das Problem zu beschönigen oder gar zu vertuschen, war für die Unternehmerin keine
Option.

Auch der schwedische Möbelriese Ikea geht das Thema recht offensiv an. Rückrufe gibt es schon bei geringen Gesundheitsrisiken, etwa bei Schokolade, auf der die Anteile von Milch und Haselnuss nicht ausreichend deklariert waren. Seit in den USA und Kanada mehrere Kinder durch kippende Kommoden zu Tode kamen, ist Ikea allerdings mit gravierenderen Vorwürfen befasst. Die Möbelstücke waren nicht, wie in der Montageleitung empfohlen, an der Wand befestigt. Trotzdem leitete der Konzern einen großangelegten Rückruf ein. Laut US-Medien wurden von dem Modell »Malm« rund 29 Millionen Stück verkauft. Nach Protesten in China könnten weitere 1,6 Millionen Kommoden folgen, obwohl die Industriestandards wie in der EU eingehalten wurden.

Ehrlichkeit und Transparenz

Während globale Konzerne meist einige Male pro Jahr mit einem Recall konfrontiert sind und auf standardisierte Notfallpläne zurückgreifen, wiegen sich kleine Betriebe oft in trügerischerer Sicherheit. Besonders wichtig ist eine klare Struktur, wer im Krisenteam welche Aufgaben wahrnimmt und welche Kommunikationswege einzuhalten sind. Grundsätzlich ist Krisenkommunikation Sache der Geschäftsleitung und will gelernt sein. So unangenehm es sein mag: Sich hinter anonymen Aussendungen zu verstecken oder ein Ereignis und dessen Folgen herunterzuspielen, ist feig und unklug. So wird Gerüchten erst recht Vorschub geleistet. Über Social Media gewinnen Nachrichten eine Dynamik, die sich nicht kontrollieren lässt.

Offenheit, Ehrlichkeit und Transparenz sind das einzige Gegenrezept. Allerdings kommt es auch auf das richtige Timing an. Es gilt die Devise: Kein Wort zu viel, aber kein Fakt zu wenig. Das Problem soll nicht größer gemacht werden, als es ist oder werden kann. Zu langes Zuwarten kann sich jedoch zum Bumerang entwickeln. Unternehmen, die eine Krise überstanden haben, sind ob ihrer Fehler meist geläutert und für die Zukunft besser gerüstet. Nicht ohne Grund lautet eine Redewendung: Aus Schaden wird man klug.

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