Geoökonomische Zeitenwende: Der Russland-Konflikt beschleunigt eine Rückabwicklung der Globalisierung und die Systemrivalität zwischen Demokratien und Autokratien ist der neue große strategische Risikofaktor. Über die Folgen verschärfter geopolitischer Konfrontation, analysiert vom FERI Cognitive Finance Institute.
Die Weltwirtschaft ist in eine neue Phase der strategischen Entkopplung eingetreten. Das bisherige System einer eng verflochtenen und kooperativen internationalen Zusammenarbeit wird von einem Umfeld verschärfter geopolitischer Konfrontation abgelöst. Auf absehbare Zeit ist mit einer Zunahme ernster Großmacht- und Systemkonflikte zu rechnen, die auch vor militärischer Eskalation nicht halt machen. Dies sind zentrale Aussagen einer aktuellen Analyse, die Sebastian Heilmann, China-Experte und Inhaber des Lehrstuhls für Politik und Wirtschaft Chinas an der Universität Trier, für das FERI Cognitive Finance Institute verfasst hat.
„Der Ukraine-Krieg setzt ein Fanal für eine harte geoökonomische Zeitenwende, deren Konturen aber bereits seit geraumer Zeit zu erkennen waren. Im neuen Szenario globaler Systemkonflikte müssen sich Unternehmer und Investoren auf einschneidende Veränderungen einstellen“, sagt Heinz-Werner Rapp, Gründer und Leiter des FERI Cognitive Finance Institute.
Alte Konfliktlinien und neue Allianzen in einer multipolaren Welt
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine mache deutlich, dass die bisherigen Strukturen einer regelbasierten und von den USA dominierten Weltordnung von einigen Mächten nicht mehr länger akzeptiert würden. Dies zeige sich schon seit einiger Zeit auch im harten Hegemonialkonflikt zwischen den USA und China. Die Rivalität dieser beiden Großmächte werde zu einer umfassenden Neuordnung der internationalen Beziehungen und zu einem forcierten Rückbau der bisherigen weltwirtschaftlichen Verflechtungen führen. „Wir müssen uns einstellen auf Jahre konfliktträchtiger Deglobalisierung – angetrieben nicht von wirtschaftlicher Kostenoptimierung, sondern von Sicherheitskalkülen und Bedrohungsrisiken“, sagt Heilmann.
Der Ukraine-Krieg habe deutlich gemacht, wie wichtig die Absicherung einer verlässlichen Rohstoff- und Energieversorgung sowie der Schutz industrieller Wertschöpfungsketten sei. Die führenden Wirtschaftsmächte würden daher in Zukunft verstärkt um neue strategische Allianzen und Einflusszonen ringen. Dabei werde sich die globale Zusammenarbeit auf sicherheitsfixierte Bündnisse verengen, bei denen systemisch-ideologische Gemeinsamkeiten bestünden. So habe etwa die erst im Februar 2022 begründete „unbeschränkte Partnerschaft“ zwischen Russland und China dezidiert die Schwächung „des Westens“ zum Ziel.
„Für China ist die Nützlichkeit Russlands in der Auseinandersetzung mit den USA und den US-Allianzen entscheidend. Denn die grundsätzliche geostrategische und systemische Rivalität zum Westen hat für China fundamentale Bedeutung“, erklärt Heilmann. Eine wichtige Rolle in der Auseinandersetzung zwischen den USA und China spielten künftig auch Mittelmächte wie etwa Indien, Vietnam, Brasilien, Mexiko oder Saudi-Arabien. „Die Regierungen dieser Länder beobachten die aktuellen Entwicklungen sehr genau. Sie warten ab, wie sich der globale Systemkonflikt entwickelt, halten sich alle Optionen offen und spielen im Zweifel die Großmächte gegeneinander aus“, so der Experte. Bezeichnend sei etwa, dass das von den USA und ihren Partnern umgesetzte Sanktionsregime gegen Russland nicht nur in China, sondern auch unter der Mehrheit der Entwicklungs- und Schwellenländer keine Akzeptanz und Unterstützung fand.
Stille Kräfteverschiebung im internationalen Währungssystem
Eine der am meisten unterschätzten neuen Entwicklungen – mit weitreichenden Folgen für die zukünftige Rolle Chinas in der Weltwirtschaft – sei derzeit auf dem Gebiet der Währungspolitik zu beobachten. „Erklärtes Ziel der chinesischen Regierung ist es, den Renminbi zu internationalisieren und als alternative Leitwährung zu etablieren. Diese Strategie scheint aufzugehen, seitdem immer mehr Länder die chinesische Währung nutzen, um so die Sanktionsrisiken für Transaktionen, die in US-Dollar abgewickelt werden, zu mindern“, erläutert Heilmann. Zwar hätte dies kurzfristig negative Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit der chinesischen Exportwirtschaft. Andererseits aber würde ganz im Sinne der chinesischen Autarkiepolitik die Kaufkraft chinesischer Produzenten und Konsumenten gestärkt und China als Zentrum weltwirtschaftlicher Nachfrage in Konkurrenz oder sogar mit Vorrang gegenüber den USA positioniert.
„Unsere Analyse macht deutlich, dass Unternehmer und Investoren künftig wesentlich stärker als bislang das Konzept geopolitischer Risikofaktoren berücksichtigen müssen. Das bedeutet neue Herausforderungen, aber selektiv auch interessante Chancen“, sagt Heinz-Werner Rapp.
Die Analyse „Geoökonomische Zeitenwende – Wie Großmachtkonflikte die Weltwirtschaft zerlegen” steht beim FERI Cognitive Finance Institute als „Cognitive Briefing“ zum Download zur Verfügung (Link).
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