Montag, Mai 20, 2024

Welche direkten und indirekten Auswirkungen der bevorstehende Austritt Großbritanniens aus der EU auf die österreichische Bau- und Immobilienbranche hat, erklärt WIFO-Experte Michael Klien in einem Gastkommentar.

Das einigermaßen überraschende »Yes« der britischen Bevölkerung zum EU-Austritt hatte bisher, abgesehen von innenpolitischen Reaktionen, keine unmittelbaren wirtschaftlichen Konsequenzen. Mit einem Shockereignis für die europäische Wirtschaft ist aus heutiger Sicht auch in den kommenden »Scheidungsjahren« nicht zu rechnen. Für die Wirtschaftsleistung in Großbritannien selbst reichen die Schätzungen von keinen spürbaren Auswirkungen des Referendums bis hin zu einer Reduktion des BIP um 3,9 % bis 2030.

Hinsichtlich der britischen Baubranche erwartet das Bauforschungsnetzwerk EUROCONSTRUCT aufgrund schwierigerer Finanzierungsbedingungen (Herabstufung durch Ratingagenturen) in Kombination mit einem Versiegen der EU-Strukturmittel geringere Tiefbauinvestitionen. Aber auch die unsicherere Nachfragesituation aufgrund von Standortverlagerungen ist dazu geeignet, zumindest den mittelfristigen Wachstumspfad aller Baubereiche zu beeinflussen. Im Endeffekt wird jedoch die detaillierte Ausgestaltung der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Großbritannien für die wirtschaftlichen Effekte des Brexit maßgeblich sein.
Die unmittelbaren Konsequenzen für Österreichs Wirtschaft, und die Bau- und Immobilienwirtschaft im Speziellen, sind demgegenüber jedenfalls als gering einzuschätzen.

Das hat einerseits mit Großbritannien als sprichwörtlicher Insel im europäischen Binnenmarkt und der geringen Verflechtung zwischen den Volkswirtschaften Österreichs und UK zu tun. Mit 3,2 % ist das vereinigte Königreich deutlich abgeschlagen nur der achtwichtigste Exportmarkt für österreichische Erzeugnisse. Für die Bauwirtschaft gilt zudem, dass im Unterschied zu typischen Handelswaren wie Maschinen und Fahrzeuge die Wertschöpfung und Leistungserstellung im Bauwesen sehr regional orientiert ist. So machen die exportierten Bauleistungen nur rund 0,3 % der österreichischen Gesamtexporte aus. Und während der Großteil dieses geringen Volumens in die umliegenden Nachbarstaaten exportiert wird, gehen wiederum nur 6 % nach UK.

Der geringe Grad an internationalen Verflechtungen im Bereich der Bauwirtschaft ist auch bei der Vergabe öffentlicher Aufträge sichtbar. Grenz­überschreitende Vergaben in der EU sind generell eher die Ausnahme, und in der Baubranche werden nur rund 1 % der Aufträge im Oberschwellenbereich an ausländische Unternehmen vergeben. Zwischen 2009 und 2014 gab es gar in Großbritannien nur eine einzige Oberschwellenvergabe eines öffentlichen Bauauftrags, die an ein österreichisches Unternehmen ging. Insgesamt ist das Risikopotenzial für die österreichische Bauwirtschaft im Sinne von gefährdeten Aufträgen damit sehr überschaubar.

Steigende Unsicherheiten

Stärker als die unmittelbaren ökonomischen Auswirkungen sind die entstehenden Unsicherheiten im Bezug auf das Verhältnis zwischen Großbritannien und der Europäischen Union und der Zukunft der EU im Allgemeinen. Vor dem Hintergrund des weiterhin unklaren Zeitplans für den Austritt, der grundsätzlich innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen werden sollte, dürfte diese Unsicherheit auch in den kommenden Monaten fortbestehen. Darüber hinaus ist durch den Brexit nicht zuletzt die Möglichkeit weiterer Referenden wahrscheinlicher geworden, was die aktuell bestehende Unsicherheit zusätzlich erhöht.

Zur Person:

Dr. Michael Klien:ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am WIFO mit den Forschungsschwerpunkten Bauwirtschaft, europäische Baukonjunktur und Wohnungsbau. 

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