Österreich investiert viel Geld ins Bildungssystem, der Output lässt im internationalen Vergleich dennoch zu wünschen übrig. Zuletzt befeuerte die SPÖ Wien mit einer Forderung nach einer grundlegenden Reform – inklusive Abschaffung der Matura – die Debatte. Wie gut bereitet die Schule auf das Berufsleben vor? Welche Fähigkeiten werden benötigt? Report(+) hat drei Expert*innen um ihre Einschätzung gebeten.
Ist die Matura noch zeitgemäß?
Andreas Ambros-Lechner
Geschäftsführer der MEGA Bildungsstiftung
Einen Leistungsnachweis und rituellen Abschluss am Ende der Schullaufbahn braucht es auf jeden Fall. Die Zentralmatura hat eine Signalwirkung, die für weitere Bildungswege nach wie vor relevant ist. In Zukunft sollte bei der Matura vermehrt auf die individuelle Schwerpunktsetzung der Schule und der Schüler*innen eingegangen werden. Auch die Form der Leistungserbringung sollte modernisiert und integrativer werden. Teamleistungen oder soziale Kompetenzen sollten abgebildet werden.
Christiane Spiel
Professorin für Bildungspsychologie und Evaluation, Universität Wien
Nach zwölf Jahren Schule braucht es einen ritualisierten Abschluss, einen klaren Endpunkt der schulischen Bildung. Zum Matura-Ritual gehören ja nicht nur die Prüfungen, sondern auch die Matura feier und die Maturareise. Daher bin ich für die Beibehaltung der Matura. Aber ich befürworte auch eine kontinuierliche Weiterentwicklung, die den gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung trägt.
Elisa Aichinger
Partnerin bei Deloitte Österreich
Eine gute schulische Grundausbildung ist eine wichtige Voraussetzung für einen erfolgreichen Start ins Leben und wird daher nie überholt sein. Die Matura stellt bislang ein Zeugnis für diese theoretische Grundausbildung dar. Gleichzeitig wissen wir, dass das Lernen »on the Job« an Bedeutung gewinnt, da sich Berufe im Zuge der Digitalisierung und ökologischen Transformation rasant verändern. Damit verkürzt sich auch die Halbwertszeit von Wissen heute stetig. Lernen muss auch in der Berufstätigkeit ein integrierter Bestandteil der Arbeit werden.
Welche Skills werden in Zukunft benötigt?
Andreas Ambros-Lechner: Die klassischen Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen sind weiterhin wichtig und grundlegend. Digitale Skills sind die vierte Kulturtechnik der Zukunft. Daneben werden in einer sich laufend veränderten Welt vernetztes Denken, Selbstorganisation, Verantwortung, Teamplaying, Eigeninitiative, Vertrauen oder auch das Einschätzen von Informationsquellen und damit verbundenen Risiken immer wichtiger. Die allerwichtigste Fähigkeit der Zukunft ist wahrscheinlich »Lernen lernen«, also neugierig zu bleiben, sich zu motivieren und eigene Lernstrategien zu entwickeln.
Christiane Spiel: Neben Fachwissen und Fachkompetenzen werden in einer Zukunft mit zunehmender Komplexität der Lebensbedingungen fachübergreifende Kompetenzen und Haltungen besonders wichtig sein. Dazu gehören insbesondere: Veränderungen aktiv annehmen (die Schule schaut zu viel auf Fehler), Selbstvertrauen und Mut haben, mit digitalen Medien und KI souverän umgehen,(Ergebnis-)verantwortlichkeit realisieren, Bildung wertschätzen, selbstorganisiert lernen, in Teams arbeiten, mit Konflikten umgehen, Solidarität und Inklusion leben.
Elisa Aichinger: Im Europäischen Jahr der Kompetenzen sind 2023 die digitale Kluft und der Fachkräftemangel in den MINT-Fächern oder Green Jobs noch einmal stark in den Fokus gerückt. Daneben sind jedoch weitere Skills gefragt: Neugier, Lernfreude, Kreativität, kritisches Denken und Problemlösungsfähigkeit. Der »Deloitte Global Human Capital Trends Report 2023« zeigt, dass diese Kompetenzen künftig das klassische Jobprofil ersetzen werden. Zwei Drittel der heutigen Volksschüler*innen werden in Berufen arbeiten, die es derzeit noch gar nicht gibt. Eine Neugestaltung von Jobs und ein Umdenken weg von starren Berufsbildern, hin zu verfügbaren und benötigten Skills, sind daher heute schon das A und O.
Mehr Chancen für alle. Aber wie?
Andreas Ambros-Lechner: Durch einen Chancenindex für Schulen mit hoher sozioökonomischer Belastung, der zusätzliche Mittel zur Verfügung stellt, die schulautonom verwendet werden können. Damit können zum Beispiel Pädagog*innen an Brennpunktschulen incentiviert werden. Es braucht die besten Pädagog*innen in den schwierigsten Gegenden. Weitere Maßnahmen, die ungleiche Familienstartbedingungen ausgleichen, wären der weitere Ausbau von Ganztagsschulen und Investitionen in hochqualitative Kindergärtenplätze mit einem Betreuungsschlüssel, der eine echte individuelle Zuwendung ermöglicht.
Christiane Spiel: Wie mehr Chancengerechtigkeit erreicht werden kann, wissen wir schon sehr lange. Aber es mangelt an der Umsetzung. Zentral ist der Ausbau des Elementarbereichs mit dem Ziel, Benachteiligungen soweit möglich vor Schuleintritt auszugleichen. Auch der Ausbau von Ganztagsschulen ist wichtig. Insbesondere sollten jedoch die Schulen mit einem hohen Anteil an Kindern mit Benachteiligungen entsprechend mehr Geldmittel erhalten, die sie gezielt einsetzen können.
Elisa Aichinger: An Unternehmen wird zunehmend der Anspruch gesellschaftlicher Verantwortung gestellt: Sie sollen nicht nur in der ökologischen Transformation eine wichtige Rolle übernehmen, sondern auch den sozialen Wandel aktiv mitgestalten. Eine zentrale Säule der sozialen Verantwortung ist Diversität, Inklusion und Chancengerechtigkeit. Unternehmen, die Gleichstellung zu einer strategischen Priorität machen, erkennen auch den wirtschaftlichen Mehrwert von Diversität. Folglich wird auch der Mensch und sein individuelles Kompetenzbündel mehr in den Mittelpunkt rücken müssen. Denn die zentrale Voraussetzung für langfristigen wirtschaftlichen Erfolg und Innovationsfähigkeit ist es, das gesamte verfügbare Potenzial, sowohl am Arbeitsmarkt als auch in einem bestehenden Team, zu erschließen.