Montag, Dezember 23, 2024
Weiterbildung - quo vadis?

Veränderungen verlaufen in den Unternehmen und ihrem Umfeld meist schleichend. Das heißt, man nimmt sie im Alltag kaum wahr. So auch in der betrieblichen Weiterbildung. Das änderte sich durch Corona schlagartig. Das Virus verhalf vielen neuen Lerndesigns zum Durchbruch.


»Das war eine andere Zeit«, erwidert Klaus Doll lachend auf die Frage, was sich in den vergangenen 25 Jahren in der betrieblichen Weiterbildung geändert hat – also in der Zeit, die verstrichen ist, seit der Report Verlag gegründet wurde.
»Damals waren die Seminare noch echte Auszeiten vom Betriebs­alltag«, ergänzt der Organisationsberater aus Neustadt an der Weinstraße. Dann berichtet er, wie er in den 1990er-Jahren, meist bepackt mit mehreren Moderationstafeln und einem Moderatorenkoffer in Seminarhotels fuhr, um dort zum Beispiel mit den Führungskräften eines Unternehmens ein zumeist drei- bis fünftägiges Führungstraining durchzuführen.

»Entsprechend viel Zeit hatten wir damals, um uns im Teilnehmerkreis zunächst über die genauen Inhalte des Seminars zu verständigen und diese dann zu bearbeiten«, betont Doll. Heute hingegen dauerten dieselben Seminare meist nur noch ein, zwei Tage, stellt der Berater nüchtern, jedoch ohne Bedauern fest. Denn auch der Charakter der Seminare hat sich in den letzten 25 Jahren verändert.


Seminarteilnehmer*innen ticken anders als vor 25 Jahren

Früher war eine zentrale Funktion von Präsenz-Seminaren und -Trainings auch, dass die Teilnehmer*innen sich persönlich kennen, verstehen und als Personen schätzen lernen. Dies geschah zu einem großen Teil während der informellen Gespräche in den Pausen oder abends in der Bar. Diese finden heute in Seminaren kaum noch statt.



Weil in den Pausen heute lieber am Handy gespielt wird als sich auszutauschen, ist eine zentrale Funktion der Präsenz-Seminare weitgehend verloren gegangen: die Netzwerkbildung. 


Statt in den Pausen gemeinsam Kaffee zu trinken und zu schwatzen, ziehen sich die Teilnehmer*innen heute in der Regel mit ihrem Handy in eine ruhige Ecke zurück, um dort zu telefonieren oder ihren Maileingang zu checken, stellt der Berater bedauernd fest. Und abends sitzen die Teilnehmer*innen nur noch selten gemeinsam in der Bar; stattdessen erledigen sie in ihren Zimmern an ihren Laptops noch dringliche Aufgaben oder chatten mit Bekannten.

Durch diese Veränderung des Sozialverhaltens ging eine zentrale Funktion der Präsenz-Seminare weitgehend verloren: die Netzwerkbildung. Deshalb denken viele Unternehmen, so Doll, zu Recht darüber nach, inwieweit man Präsenz-Seminare – die in der Regel eine hohe Investition an Zeit und Geld erfordern – durch Online-Trainings- und -Seminare ersetzen kann.


Die meisten Veränderungen verlaufen schleichend

Ähnlich äußert sich der Weiterbildungsjournalist und Marketingberater für Berater Bernhard Kuntz, der die Entwicklung des Bildungs- und Beratungsmarkts im deutschsprachigen Raum seit über 30 Jahren »wohlwollend kritisch« begleitet.
Auch der Inhaber der PRofilBerater GmbH in Darmstadt ist der Auffassung: »Die Weiterbildungslandschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten fundamental gewandelt. Im Alltag nimmt man diese Veränderungen, da sie schleichend verlaufen, aber kaum wahr.«

Sehr deutlich wurden ihm diese jedoch, als er im Oktober mit seinem Unternehmen umzog und sich überlegte: Welche Utensilien, die sich in den zurückliegenden fast 30 Jahren in unserem Büro angesammelt haben, nehme ich in unser neues Büro mit? Als Erstes wanderten die gesammelten Jahrgänge von zwei, drei Jahrzehnten solcher Weiterbildungsmagazine wie managerSeminare, wirtschaft+weiterbildung und Training in den Müll.
Ihnen folgten zahlreiche Klassiker der Managementliteratur aus dem vergangenen Jahrhundert, denn Kuntz wurde beim Ausräumen klar: »In diese Zeitschriften und Bücher habe ich in den letzten zehn, 15 Jahren nicht geblickt und dies werde ich auch künftig nicht mehr tun.«

Ebenfalls im Müllcontainer landeten Hunderte von (Lehr-)Videokassetten sowie CDs aus den 90er-Jahren, die die Anfänge des E-Learnings bzw. des Computer-Based-Trainings (CBT) in den Unternehmen dokumentieren. Damals waren diese Speichermedien der letzte Schrei, heute sind sie Relikte aus einer vergangenen Zeit.

Die Digitaltechnik entwickelt sich rasant weiter 

Mit dem Thema E-Learning bzw. computer- und netzgestütztes Lernen begannen sich die Personalverantwortlichen in den Unternehmen laut Aussagen der Wiener Wirtschaftspsychologin und (Online-)Trainerausbilderin Sabine Prohaska verstärkt kurz vor der Jahrtausendwende, also vor etwa 25 Jahren, zu befassen, und zwar ausgehend von der Erkenntnis:

Der Veränderungs- und somit Lernbedarf in den Unternehmen ist heute oft so groß, dass er zentral, also zum Beispiel von deren Personalabteilungen nicht mehr erfasst werden kann. Und: Der Weiterbildungsbedarf ist aufgrund der verschiedenen Funktionen der Mitarbeiter*innen und deren unterschiedlicher Vorerfahrungen heute oft so individuell, dass er mit zentral entwickelten, standardisierten Weiterbildungsprogrammen alleine nicht mehr befriedigt werden kann.

Deshalb wurde unter dem Begriff »Employability« bzw. Beschäftigungsfähigkeit in Personalerkreisen lebhaft darüber debattiert, inwieweit die Mitarbeiter*innen künftig selbst dafür verantwortlich sein sollten, dass sie – kurz-, mittel- und langfristig – die Fähigkeiten haben, die sie zum Wahrnehmen gewisser Aufgaben und Funktionen im Unternehmen brauchen. Sie sollten sozusagen »Selbstentwickler« werden, und als ein geeignetes Tool hierfür wurden unter anderem elektronische Lernplattformen gesehen, mit deren Hilfe die Mitarbeiter*innen, das benötigte Wissen sich selbst aneignen können, und zwar dann, wenn sie es brauchen.


Das E-Learning dümpelte lange Zeit vor sich hin

Zum Einsatz kamen diese E-Learning-Plattformen damals meist nur in Großunternehmen wie Hans-Peter Machwürth, Inhaber des Beratungsunternehmens Machwürth Team International (MTI), Visselhövede (D), betont. Ein Grund hierfür war: Der Aufbau der dazu erforderlichen IT-Infrastruktur und das Entwickeln der benötigten Lernprogramme war zum damaligen Zeitpunkt noch so teuer, dass sich diese Investition nur bei großen Mitarbeiter*innengruppen lohnte.

Entscheidender war jedoch laut Prohaska: Um die Jahrtausendwende waren die Zielgruppen der Weiterbildung »noch weitgehend Baby-Boomer, also keine Digital Natives, sondern Immigrants mit einer eher geringen Digitalkompetenz«. Entsprechend groß waren oft ihre Vorbehalte gegen ein computergestütztes Lernen, weshalb sie dies, wenn überhaupt, nur widerwillig taten.

Deshalb erlahmte in den Folgejahren zunehmend die anfängliche Euphorie vieler firmeninterner Weiterbildner*innen für das Thema E-Learning, zumal ein fundamentales Credo damals noch lautete: Online lässt sich zwar das kognitive Wissen bzw. Fachwissen der Mitarbeiter*innen trainieren, Einstellungs- und Verhaltensänderungen bei ihnen lassen sich so aber nicht herbeiführen.

Weiterbildner*innen »verschliefen« gesellschaftliche Entwicklungen

Viele Weiterbildner*innen und mit ihnen externe Berater*innen, Trainer*innen und Coaches übersahen in den Folgejahren dann auch zwei Entwicklungen, die sich in ihrem Umfeld vollzogen.

Spätestens ab dem Jahr 2007, als das erste iPhone von Apple auf den Markt kam, entwickelten sich die sogenannten Smartphones zu einem alltäglichen Wegbegleiter, nicht für jungen Menschen. Und spätestens ab dem Jahr 2010 waren nicht nur die meisten Weiterbildungsteilnehmer*innen Digital Natives mit einer hohen Affinität zur Digitaltechnik, sie übernahmen zunehmend auch Entscheidungspositionen in den Unternehmen.

Dies führte laut Machwürth aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung nicht selten zu der anachronistischen Situation, dass im Betriebsalltag zwar alle für die Leistungserbringung relevanten Prozesse computer- und netzgestützt abliefen, ebenso die Koordination der Zusammenarbeit bei der Projektarbeit – in der betrieblichen Weiterbildung kam die moderne Informations- und Kommunikationstechnik aber nicht zum Einsatz.

Und während die Mitarbeiter*innen privat schon längst selbstverständlich neben Lern-Apps, beispielsweise für Sprachen, auch sogenannte Coaching-Apps, beispielsweise zum Joggen, Abnehmen oder Entspannen nutzten, lautete im Business-Bereich noch weitgehend das Credo: Ein Coaching setzt eine persönliche Begegnung von Coach und Coachee voraus.

Diesen Widerspruch spürten auch die Mitarbeiter*innen, was auch das Image der firmeninternen Weiterbildung negativ beeinflusste und zum Beispiel die Wirtschaftspsychologin Sabine Prohaska zum Fazit veranlasst:
»Der Digitalisierungsprozess in der Wirtschaft und Gesellschaft ging an der Weiterbildung und Personalentwicklung in den Unternehmen über viele Jahre fast spurlos vorbei.«



»E-Learning ist nicht nur ein technischer Prozess. Vielmehr gilt es, wenn Mitarbei-ter*innen real in ihrer Entwicklung gefördert und unterstützt werden sollen, auch zahlreiche soziale und emotionale Aspekte zu beachten«, sagt Sabine Prohaska.


Corona war ein »Wachmacher«

Das änderte sich erst mit Corona, denn in den Pandemiezeiten waren Präsenzseminare nicht oder nur bedingt möglich. Deshalb wurde in vielen Betrieben das Online-Lernen forciert. Das Lernen mit Lern- und Videoplattformen, Foren und Kollaborationstools wurde anfangs aber oft noch als ein minderwertiger Ersatz für das Seminarlernen gesehen.

Erst allmählich dämmerte den Verantwortlichen, so die Beraterin, »dass das digitale Lernen eine überfällige Bereicherung der Weiterbildung darstellt – unter anderem, weil sich bei ihm der Fokus weg vom Trainer hin zu den Teilnehmenden verschiebt. Sie werden viel stärker als beim klassischen Lernen dazu animiert, ihre Lernprozesse selbst zu organisieren und zu gestalten.«

Zudem dämmerte den Weiterbildungsverantwortlichen mit der Zeit, dass die Digitaltechnik ganz neue Weiterbildungsdesigns ermöglicht. So werden laut Aussagen des Organisationsberaters Doll heute von den Unternehmen zum Beispiel statt der gewohnten Tagesseminare verstärkt auch eineinhalb- bis zweistündige Online-Nuggets nachgefragt, denn: »Solche kurzen Lerneinheiten lassen sich gut in den Arbeitsalltag integrieren.«

Verstärkt nachgefragt werden laut Jürgen Eisserer, CEO der Menschen im Vertrieb GmbH, Graz, auch »hybride Weiterbildungen«, bei denen die Teilnehmer*innen mal in Präsenz- und mal in Live-Online-Veranstaltungen sowie mal im Plenum und mal alleine oder in Kleingruppen lernen und arbeiten. »Sie machen aus dem Einmal-Event Seminar einen Lernprozess, der meist nachhaltiger wirkt.«



Jürgen Eisserer, Menschen im Vertrieb GmbH: »Hybride Weiterbildungen machen aus dem Einmal-Event Seminar einen Lernprozess, der meist nachhaltiger wirkt.«

Ein weiterer Vorteil des Online-Lernens laut Hans-Peter Machwürth ist: Mit ihm sind neue Personengruppen für die Weiterbildung erreichbar – so zum Beispiel:
- Mitarbeitende, die nicht außer Haus übernachten wollen oder können, und
- Mitarbeitende, die nicht ein, zwei Tage im Betrieb fehlen können oder möchten.

Neue Lernkultur entwickeln 

In den zurückliegenden eineinhalb Jahren haben viele Unternehmen die technische Infrastruktur aufgebaut, die für ein Online-Lernen bzw. hybrides Lernen, das Online- und Präsenzlehre verknüpft, erforderlich ist. Die nötige Technik zu implementieren, ist aber nur der erste Schritt, um in Unternehmen eine neue Lernkultur zu etablieren, betont Prohaska: »E-Learning ist nicht nur ein technischer Prozess. Vielmehr gilt es, wenn die Mitarbeiter real in ihrer Entwicklung gefördert und unterstützt werden sollen, auch zahlreiche soziale und emotionale Aspekte zu beachten.«

Deshalb empfiehlt sie Unternehmen zum Beispiel beim Aufbau einer neuen Lerninfrastruktur und beim Entwickeln neuer Lerndesigns stets zu reflektieren:
- Wer soll diese nutzen?
- Welche Kompetenzen/Eigenschaften sind hierfür nötig?
- Inwieweit sind diese bei den potenziellen »Usern« bereits vorhanden bzw. müssen sie bei ihnen erst noch entwickelt werden?

Wenn in den Unternehmen eine Lernkultur entstehen soll, bei der das Lernen ein integraler Arbeitsbestandteil ist und sich die Mitarbeiter*innen die nötigen Kompetenzen weitgehend eigenverantwortlich aneignen, müssen aber auch gewisse Rahmenbedingungen gegeben sein.

Dann sollten zum Beispiel Lernzeiten von den Unternehmen auch als solche anerkannt, zur Verfügung gestellt und bezahlt werden – und zwar unabhängig davon, ob die Mitarbeiter*innen im Betrieb oder Homeoffice arbeiten. Dies ist in vielen Unternehmen heute noch nicht der Fall.

 

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