Die Welt ist aus den Fugen geraten. Veränderte Arbeitsbedingungen erfordern neue Strukturen und Qualitäten im Leadership. Der richtige Zeitpunkt, um die Weichen für eine zukunftsfähige Unternehmenskultur zu stellen, ist jetzt.
So schmerzhaft sich die Pandemie auf viele Branchen und Unternehmen auswirkt, so lehrreich ist sie aus wirtschaftspolitischer und aus wirtschaftspsychologischer Sicht. Geschäftsmodelle und Arbeitsprozesse machten den längst fälligen Schritt in Richtung Digitalisierung; E-Commerce und Remote Work erfuhren einen dauerhaften Schub.
Die Krise stellt auch die Führungskräfte auf eine harte Bewährungsprobe.
Zwar sind die meisten Managerinnen und Manager erfahren in der Bewältigung kleinerer und größerer Herausforderungen, für die ungeahnten Ausmaße einer Pandemie waren aber vermutlich die wenigsten gerüstet. Wie die breite Bevölkerung kann auch ein Unternehmen nicht dauerhaft in Alarmzustand verharren. Eine wesentliche Erkenntnis des letzten Jahres ist daher, sich von Planbarkeit und Effizienz zu verabschieden. Trotz einer Überfülle von Daten, Reportings und Benchmarks sind Risiken nicht immer beherrschbar und steuerbar.
»Wir alle haben mit der Corona-Krise ein ganz klassisches Beispiel von Disruption erlebt«, erklärte Trendforscher Franz Kühmayer, Arbeitsexperte am Zukunftsinstitut, im vergangenen September bei einer Veranstaltung der Executive Academy an der Wirtschaftsuniversität Wien. »Mit der Krise hat sich die Art, wie wir Erfolg sehen, verändert.«
Die Rückkehr in eine alte Normalität, »die vielleicht etwas digitaler und somit ›new‹ ist«, so Kühmayer, sei keine Option. Es brauche ein anderes Führungsverständnis: »Es geht bei Leadership nicht darum, den Regelbetrieb aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Diese Art des industriellen Denkens hat uns lange Zeit geprägt, hier müssen wir umdenken.« Führungskräfte müssten dieses konforme Denken »auf produktive Weise erschüttern und Disruption und Innovation in die Unternehmen bringen«. Wenn in der Wirtschaft kein Stein auf dem anderen bleibt, sind rasche Reaktion und Mut zu ungewöhnlichen Wegen gefragt.
Unsicherheitskompetenz
Corona legte gnadenlos die Schwächen im Immunsystem der Unternehmen offen: globale Lieferketten, unzulängliche IT-Infrastruktur, geringe Eigenverantwortung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Der Ex-Manager und Autor Klaus Schweinsberg leitet aus der Tatsache, dass auch Notfallpläne in Krisen wie der jetzigen nur bedingt weiterhelfen, das Eingeständnis der Ungewissheit als wichtigste Fähigkeit von Managern ab: »Unsicherheitskompetenz ist eine Schlüsselressource, um künftig Handlungs- und Innovationsfähigkeit zu sichern.«
Nun, da die Berechenbarkeit ökonomischer Systeme an ihre Grenzen stößt, rücken andere Denkrichtungen in den Vordergrund. »Es gibt historische Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert. Wir nennen sie Tiefenkrisen«, schreibt der Zukunftsforscher Matthias Horx. »Diese Zeiten sind jetzt.«
Der permanente Wandel, einhergehend mit zunehmender Komplexität, führt zu veränderten Rahmenbedingungen. Wie ein Unternehmen geführt wird, ist ein entscheidender Erfolgsfaktor und strategisches Differenzierungsmerkmal. »Die bisherigen Führungsqualitäten sind ein Ausgangspunkt, aber der Erfolg von morgen hängt von anderen und vielfältigeren Qualitäten ab«, erklärt Gudrun Heidenreich-Pérez, Director Consulting bei Deloitte Österreich. »Die neuen Must-haves umfassen Offenheit und Flexibilität auf kognitiver, emotionaler sowie verhaltensbasierter Ebene. Von diesen Führungsqualitäten hängt viel ab, nicht weniger als die Zukunft des Unternehmens.«
Beziehungsarbeit
Während vor der Corona-Pandemie unter dem Schlagwort »Holocracy« die zukünftige Rolle von Führungskräften bereits in Frage gestellt wurde, ist nun wieder echtes Leadership gefragt. Zwei Faktoren sind nach einer Analyse des Frankfurter Instituts für Führungskultur im digitalen Zeitalter (IFIDZ) dafür verantwortlich: die tiefe Verunsicherung der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die Tatsache, dass ein großer Teil der Belegschaft im Homeoffice arbeitet.
In einer Online-Erhebung für das aktuelle Leadership-Trendbarometer wurden Führungskräfte nach den gegenwärtig drei größten Herausforderungen in der Mitarbeiterführung befragt. Fast drei Viertel der Teilnehmenden wählten die Aussage »den Mitarbeitern die erforderliche Orientierung und den nötigen Halt zu geben« und 55 % »sich ausreichend Zeit für die Mitarbeiter und ihre Fragen zu nehmen«. Ebenfalls unter den Top 4 landeten die beiden Items »die Beziehung zu den Mitarbeitern im Homeoffice aufrecht zu erhalten« (65 %) sowie »Mitarbeiter aus der Distanz zu führen« (51 %).
Neben dem Aufrechterhalten der Beziehung zu den einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dürfte auch das Bewahren des Teamgeists zunehmend Probleme bereiten. Aufgaben, die eng mit der Entscheiderfunktion von Führungskräften verknüpft sind, wurden dagegen auffallend selten als herausfordernd empfunden. So nannten nur 18 % »die Zielvorgaben den veränderten Rahmenbedingungen anzupassen« als größte Schwierigkeit.
IFIDZ-Leiterin Barbara Liebermeister spricht in diesem Zusammenhang von einer »Renaissance der Führung«: »Führung muss sich zwar wandeln, wird aber im digitalen Zeitalter immer wichtiger.«
Digitale Kultur entwickeln
Die Pandemie ging mit einem kräftigen Digitalisierungsschub einher. Unternehmensberaterin Susanna Achleitner, Partnerin bei trainconsulting, ortet jedoch großteils einen Technikboost, während die menschlich-kommunikative Ebene oftmals vernachlässigt wird: »Führungskräfte müssen sich einen persönlichen Digitalisierungsschub verpassen, um Kommunikation gestalten zu können.« Virtuelle Meetings brauchen ein anderes Setting, um Diskussionen zu ermöglichen. Mehr denn je ist im Leadership Empathie gefragt, so Achtleitner: »Es ist ein wichtiger Teil der Führungsarbeit, sich für die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu interessieren.«
Für Gerlinde Macho, Gesellschafterin der MP2 IT-Solution GmbH, zählt »ein digitales Mindset, bei dem der Mensch im Mittelpunkt steht«, zu den Schlüsselfaktoren für erfolgreiches Führen in der Arbeitswelt 4.0: »Digitalisierung ist längst kein rein technisches Thema mehr, sondern muss als Prozess verstanden werden, der Mensch und Technologie betrifft.« Digital Leadership sei als Führungsstil zu verstehen, der »Innovation vorantreibt und Workflows agiler sowie flexibler gestaltet«, so Macho: »Digital Leaders entwickeln eine innovative, digitale Kultur im Unternehmen und können das Team davon begeistern. Dafür sind Digitalisierungsexpertise und professionelles Change-Management gefragt. Und natürlich spielt der Faktor Mensch eine wesentliche Rolle. Führung bedeutet organisatorische und soziale Verantwortung und betrifft die gesamte Unternehmenskultur.«
Wertewandel
Es erstaunt nicht, dass vor allem jene Unternehmen zu den Produktivitätsgewinnern zählen, die den Kulturwandel zur New Work bereits vollzogen haben. Vertrauen, Kooperationsfähigkeit und Achtsamkeit sind für sie keine leeren Bekenntnisse in Unternehmensleitbildern. Die räumliche Distanz führt in diesen Organisationen nicht zu sozialer Isolation. Gerade in der Krise zeige sich, so Leadership-Experte Franz Kühmayer, »dass Arbeit an der Führungskultur kein Schönwetterprogramm ist«: »Nach Corona werden wir uns nicht nur daran erinnern, wie wir die Krise bewältigt haben, sondern auch mit wem. Und das bedeutet auch: mit wem wir unsere Zukunft gestalten wollen.«
Etliche Unternehmen formulierten in den vergangenen Jahren einen höheren Zweck – »Purpose« – als Leitbild für Teamgeist und Kundenorientierung. Wo es gelang, diese Sinnfrage schlüssig und ohne das übliche hohle Marketingvokabular zu beantworten, können konjunkturelle Unwägbarkeiten tatsächlich besser bewältigt werden. Die Sinnfrage wird künftig für alle Unternehmen zum zentralen Element.