»Ein System kann nur sehen, was es sehen kann, es kann nicht sehen, was es nicht sehen kann. Es kann auch nicht sehen, dass es nicht sehen kann, was es nicht sehen kann«, schrieb der deutsche Soziologe Niklas Luhmann und übertrug diese Erkenntnis auf Unternehmen. Ein Gastkommentar von Herbert Strobl.
»Autopoiese« (kein Tippfehler!) ist zugegebenermaßen ein sperriger und wenig verbreiteter Begriff. Sollten Sie Verantwortung für die strategische Weiterentwicklung Ihres Unternehmens tragen, könnte es trotzdem wichtig sein, sich damit auseinanderzusetzen. Autopoiese beschäftigt sich nämlich mit den grundlegenden Organisationsprinzipien lebender Systeme, insbesondere wie sich Systeme selbst erschaffen und selbst am Leben erhalten.
Ausgangspunkt waren Überlegungen zweier Zellbiologen in den 1980er-Jahren in ihrem Buch »Der Baum der Erkenntnis«: Wenn sich Zellen notwendigen, externen Input wie Energie oder Materie aneignen, übernehmen sie ihn nicht einfach, sondern transformieren alles völlig autonom und nach ihren eigenen Regeln – Stichwort z.B. Fotosynthese. Sie bestimmen auch selbst die Systemgrenze zwischen ihrem »Drinnen« und »Draußen«. Zellen reproduzieren sich dann schließlich aus sich selbst heraus.
Bald fand dieses Konzept durch Niklas Luhmann auch Eingang in die Systemtheorie, indem er es auf soziale Systeme wie Unternehmen übertrug. Er lieferte damit eine Fülle von Erklärungen für die oft nicht sichtbaren, gleichwohl klar spürbaren Vorgänge und Spielregeln in Organisationen: Jede Abteilung, jedes Unternehmen ist ein soziales System mit eigenen Kommunikations- und Verhaltensregeln und grenzt sich damit auch von der umgebenden Umwelt ab.
In der jeweiligen »Zelle« entsteht Sinn aus einem Input der Umwelt nur, wenn er auf die entsprechende Passung im System selbst trifft – alles andere wird ignoriert! Die Art und Weise, mit der Ereignisse von Organisationen beobachtet werden, »formatiert« gewissermaßen die Bedeutung des Ereignisses für das System selbst. Das Entstehen von blinden Flecken ist damit nur die logische Konsequenz und irgendwann »weiß der Fisch im Wasser gar nicht mehr, was nass eigentlich bedeutet«.
Damit sollte der Nutzen von »Querdenkern« für die Weiterentwicklung einer Organisation eigentlich klar sein: Neue Perspektiven und Lösungen können durch »thinking outside the box« entstehen. Es ist übrigens auch ein Kennzeichen von Leadership, wenn unkonventionelle Impulse nicht einfach gleich als lästige »Systemstörungen« beseitigt, sondern bewusst wahrgenommen und gefördert werden. Dazu braucht es aber auch Mut, Offenheit und die Fähigkeit zuhören zu können – das ist gerade bei Führungskräften, die sich selbst stolz als »beratungsresistent« bezeichnen, oft nicht übermäßig ausgeprägt. Hier darf ich auch noch eine Lanze für meine eigene Zunft, die Beratung, brechen, die sich ja quasi »den professionellen Blick von außen« auf die Fahnen geschrieben hat: Gute Beratung ist immer eine Mischung aus empathischer Anschlussfähigkeit an das Bestehende und zielgerichteter Verstörung, die dem System hilft, neue Erkenntnisse über sich selbst zu gewinnen. Auch Querdenker können nicht immer die richtigen Antworten geben, aber sie können ein entscheidender Impuls dafür sein, dass sich die Organisation selbst die richtigen Fragen stellt.
Der Autor: Herbert Strobl ist Managementberater und Entwicklungsbegleiter mit Schwerpunkt auf Führung, Veränderung und Unternehmenskultur. Er verfügt über 20 Jahre Führungserfahrung in internationalen Konzernen und arbeitet seit vielen Jahren als systemischer Unternehmensberater, Executive-Coach und Wirtschaftsmediator. |