Sonntag, Dezember 22, 2024

Gerlinde Kaltenbrunner hat alle 14 Achttausender bestiegen, oft unter widrigsten Bedingungen und erst nach vielen ­gescheiterten Anläufen. Warum das Umkehren knapp unter dem Gipfel trotzdem keine Niederlage ist und was die ­Faszination hoher Berge ausmacht, erzählt die Extrem­sportlerin im Report(+)PLUS-Interview. 

 

(+) plus: Achttausender sind eine recht unwirtliche Umgebung – es ist eisig kalt, es stürmt und schneit und die Luft ist so dünn, dass man kaum atmen kann. Warum zieht es Sie dort immer wieder hinauf?
Gerlinde Kaltenbrunner: Es ist oft eine sehr abweisende Gegend. Trotzdem ziehen mich die hohen Berge völlig in ihren Bann. Von ihnen geht eine starke Kraft und Energie aus. Diese Abgeschiedenheit, die große Stille, die Ausblicke – nicht nur vom Gipfel, sondern auch schon unterwegs – sind großartig. Das beginnt schon beim Anmarsch, zum K2-Nordpfeiler waren wir mit Kamelen sieben Tage in völlig abgeschiedener Landschaft unterwegs. Das allein ist schon faszinierend. Da spüre ich: Das ist ganz meine Welt. Ich fühle mich aufgehoben, trotz der großen Risiken. 

(+) plus: Hatten Sie in manchen Situationen Angst?
Kaltenbrunner: Großen Respekt habe ich immer. Ich bereite mich bestmöglich vor, aber trotzdem gibt es immer wieder Momente, die angsteinflößend sind. Vor allem wenn ich einen Lawinenabgang mitbekomme – schon allein das Geräusch fährt mir so richtig in die Knochen. Sind schwierige technische Aufgaben zu lösen, denke ich aber nicht ständig: Hoffentlich passiert mir nichts, ich darf nur nicht abstürzen. Ich verlasse mich sehr stark auf mein Bauchgefühl. Das ist oft nicht erklärbar. Manchmal entscheide ich mich fürs Weitersteigen, oft auch fürs Umdrehen – obwohl das Wetter passt. Aber ich spüre, dass etwas nicht stimmt. Das hat mich noch nie im Stich gelassen. Für viele Kollegen ist das unverständlich. 

(+) plus: Sie wurden selbst einmal von einer Lawine verschüttet, konnten sich aber befreien. Hat sich dadurch etwas für Sie verändert?
Kaltenbrunner: Davor hatte ich immer geglaubt, sicher unterwegs zu sein. Meine eigene Vergänglichkeit schien mir noch weit weg. Aber in diesem Moment war ich auf einmal voll damit konfrontiert. Ich habe lange gebraucht, damit zurechtzukommen. Seitdem bin ich noch vorsichtiger und wähle noch akribischer meinen Zeltplatz aus. Ich war früher risikobereiter. 

(+) plus: Spielt da auch mit, dass Sie am K2 den Absturz Ihres Kollegen Fredrik Ericsson unmittelbar miterleben mussten und später auch Ihre Freundin Cristina Castagna ums Leben kam?
Kaltenbrunner: Der Tod von Cristina ging mir sehr nahe. Aber es war ganz klar, das Wetter wird schlecht und sie ist trotzdem aufgestiegen. Ich will nicht sagen, bei Fredrik ist es »aus unerklärlichen Gründen« passiert. Es genügt oft ein kleiner Konzentrationsfehler und man ist weg. Das sind schon echte Rückschläge. Ich bin danach sofort allein abgestiegen, mit dem Fokus nur auf den nächs­ten Schritt. Um elf Uhr nachts war ich wieder unten beim Einstieg. Der Körper hat so lange funktioniert, bis ich in Sicherheit war. Dann ist alles in mir zusammengebrochen. 

(+) plus: Haben Sie danach daran gedacht, mit dem Bergsteigen aufzuhören?
Kaltenbrunner: Dieser Gedanke war nie da. Im Gegenteil: Ich habe keine Ruhe gefunden, bis ich wieder zum Nordpfeiler zurückgekehrt bin und dort die Geschehnisse für mich verarbeitet habe. Wir wissen, es bleibt ein Restrisiko. Das ist Fredrik genauso eingegangen wie ich. Ohne Teamkollegen herunter zu kommen, ist das Schlimmste. Alle anderen Versuche, als ich Aufstiege abbrechen musste, habe ich persönlich nie als Scheitern gesehen. Die oberste Priorität war für mich immer die gesunde Rückkehr, denn nur dann hatte ich die Möglichkeit, es wieder zu probieren. Die letzten Schritte zum Gipfel des K2 waren für mich tief bewegend. In mir kehrte absolute Stille ein, als ob Fredrik dabei wäre. Das war überwältigend. 

(+) plus: Wie wichtig ist das Team?
Kaltenbrunner: Ich bin keine Einzelkämpferin. Auch wenn man teilweise allein da oben unterwegs ist, braucht es immer den Rückhalt vom Basislager und von daheim. Es ist immer eine Teamarbeit. Als mein langjähriger Partner Ralf am K2 umgedreht hat, war das natürlich eine schwierige Situation. Aber wie sich herausstellte, war er uns vom Basislager aus eine viel wichtigere Stütze. 

(+) plus: Sie mussten wegen Schlechtwetters, Steinschlags oder Erkrankung Ihrer Kollegen mehrfach umkehren, allein am K2 sechs Mal. Wie findet man nach solchen Rückschlägen wieder neue Motivation?
Kaltenbrunner: Die entsteht aus Leidenschaft und Begeisterung. Es macht mir enorme Freude, ich gehe darin auf. Anders könnte ich mich nicht immer wieder motivieren. Oft ist das Wetter wirklich nicht sehr einladend, da kostet auch das Training Überwindung. Ja, anstrengend ist es schon. Ich trainiere in Österreich und der Schweiz vorwiegend Kraft und Ausdauer, im Winter bei Skitouren und beim Eisklettern. An die Höhe passe ich mich immer erst vor Ort, zum Beispiel im Karakorum oder Himalaya an. 

(+) plus: Sie sind die dritte Frau, die alle 14 Achttausender bestiegen hat. Der »Wettkampf« zwischen Ihnen, der Südkoreanerin Oh Eun Sun und der Spanierin Edurne Pasaban wurde damals medial stark hochgespielt. Sind Sie froh, dass dieses Kapitel abgeschlossen ist?
Kaltenbrunner: Ich habe mich dagegen gewehrt, diesen Wettkampf hat es für mich nie gegeben. Das wollte aber niemand hören. Ich steige nicht auf einen Berg, um die Erste dort zu sein. Nach dem neunten Achttausender kam der große Wunsch, einmal auf allen gestanden zu haben. Ich wollte es probieren, aber aus eigener Kraft – also ohne Flaschensauerstoff und ohne Hilfe von Hochträgern. Das habe ich bis zum Schluss beibehalten. 

(+) plus: Reinhold Messner würdigte Ihre Leistung, relativierte sie gleichzeitig jedoch als »Pistenbergsteigerei«. Sie hätten meist auf von Sherpas angelegte Infrastruktur zurückgegriffen. Ärgern Sie solche Aussagen?
Kaltenbrunner: Eine Zeitlang hat mich das schon geärgert, weil es nicht der Wahrheit entspricht. Es stimmt, ich habe bei vielen Achttausendern den »normalen« Weg gewählt. Manchmal geht es gar nicht anders. Aber ich war immer ohne Träger unterwegs und habe meine eigenen Fixseile gelegt. Reinhold Messner war bei vielem der Erste. Es hat sich seither viel verändert, vom Material bis zum Satellitentelefon. Ich kann auf Informationen von früheren Expeditionen zurückgreifen. Die Erstbesteiger in den 1950er-Jahren waren für mich echte Pioniere. 

(+) plus: Wurden Sie von den Männern in der Bergsteigerszene gleich akzeptiert?
Kaltenbrunner: Am Anfang habe ich darüber gar nicht nachgedacht. Gerade das Bergsteigen hatte ich immer als heile Welt betrachtet – kein Wettkampf, kein Neid und alle sind Freunde. Durch etliche kritische Stimmen habe ich später gemerkt: Es ist nicht immer nur Wohlwollen da. Erst nach meinem achten Achttausender haben mich Kollegen um meine Einschätzung zum Wetter oder zu meiner Taktik gefragt. Da wurde ich langsam akzeptiert. 

(+) plus: Gehen Frauen anders an eine Tour heran?
Kaltenbrunner: Die meisten Männer setzen sich selbst stark unter Druck. Ohne Gipfelerfolg zurückzukommen, bedeutet für sie, versagt zu haben. Ich möchte nicht alle in einen Topf werfen, aber da gibt es schon manchmal eine starke Verbissenheit. Wenn wir umkehren mussten, war unter den Kollegen die Stimmung oft am Boden. Ich habe meistens gleich frische Motivation gespürt, wieder einen neuen Versuch zu planen. 

(+) plus: Was sind Ihre nächsten Ziele?
Kaltenbrunner: Meinen Lebenstraum habe ich mit der Besteigung der 14 Achttausender erfüllt. Ich lasse es jetzt damit gut sein. Es muss nicht immer das allerhöchste Limit sein. Meine Schwerpunkte sind jetzt schöne Sechs- oder Siebentausender, vielleicht auch ein ganz abgelegener, unbestiegener Fünftausender. Aber die Berge bleiben für immer meine Leidenschaft – ganz bestimmt!

(+) plus: Könnten Sie sich überhaupt noch ein ganz normales Leben vorstellen?
Kaltenbrunner: Ich bin sehr abenteuerlustig und reise gern. Einen ganz normalen Alltag kann ich mir nicht vorstellen. Ich habe meinen Beruf als Krankenschwester so gern ausgeübt, mittlerweile würde ich mich in diesem Hierarchiegefüge jedoch gar nicht mehr wohlfühlen. Ich muss mich frei bewegen können. Mit meinen Vorträgen andere Leute zu inspirieren, ist auch eine Art der Erfüllung für mich. 


Zur Person:
Gerlinde Kaltenbrunner, geboren 1970 in Kirchdorf an der Krems, begann im Alter von 13 Jahren durch Anregung ihres Pfarrers mit dem Felsklettern. Mit 23 bestieg sie am Broad Peak erstmals einen Gipfel über 8.000 Meter. Seit der Besteigung des Nanga Parbat 2003 lebt die ausgebildete Krankenschwester ausschließlich von der medialen Verwertung ihrer alpinistischen Erfahrungen durch Bücher und Vorträge. Am 23. August 2011 erreichte Kaltenbrunner den Gipfel des K2 und ist damit die dritte Frau, die alle 14 Achttausender bestiegen hat – aber die erste, der es ohne zusätzlich mitgeführten Sauerstoff gelang.

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