Eine Kultur der Menschlichkeit bedeutet mitnichten grenzenloses Verständnis und Nachsichtigkeit. Die Beraterinnen Bettina Hoffmann-Ripken und Andrea Barrueto beschreiben, wie Organisationen eine humane Unternehmenskultur etablieren können.
Wenn Unternehmen die vierte Industrialisierung überleben wollen, müssen sie ihr Silo-Denken aufbrechen, Innovation und Digitalisierung vorantreiben und vor allem das ganze Potenzial ihrer Mitarbeitenden aktivieren. Aber viele Unternehmen, die sich vor einigen Jahren mit Euphorie und Transformationswillen an die Einführung von agilen Methoden und New Work gemacht haben, stellen nun fest, dass sich wenig geändert hat. Doch es liegt weder an den Methoden noch an den Menschen. Es liegt an der Unternehmenskultur.
Mit einer Kultur der Menschlichkeit ist eine Unternehmenskultur gemeint, in der Mitarbeiter*innen herausgefordert werden, Verantwortung zu übernehmen und sich und ihre Meinung einzubringen – hierarchieübergreifend. Sie ist kein netter Zusatz, auf den sich Unternehmen konzentrieren können, wenn sie keine anderen Herausforderungen haben, sondern eine zentrale strategische Aufgabe für ein Unternehmen, das den nächsten Schritt gehen möchte. Die Entwicklung einer Kultur der Menschlichkeit ist nicht nur ökonomisch sinnvoll, sondern leistet auch einen Beitrag für die individuelle, persönliche Weiterentwicklung der Mitarbeitenden. Organisationsentwicklung und Persönlichkeitsentwicklung gehen letztlich Hand in Hand.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, wie sehr sich Unternehmen und die Arbeitswelt in den letzten 250 Jahren gewandelt haben. Vermutlich hätten die Menschen uns noch vor 100 Jahren Utopisten geschimpft, wenn wir ihnen erzählt hätten, wie heute unsere Arbeitswelt aussieht. Es braucht neue Ideen und ein wirkliches Infragestellen unserer Denkweisen, um die Zukunft der Zusammenarbeit zu gestalten.
Nicht nur nett sein
Ein großes Missverständnis besteht darin, dass viele Menschen unter Menschlichkeit Nachsichtigkeit oder Bequemlichkeit verstehen. Eine Kultur der Menschlichkeit schafft jedoch einen Kontext, in welchem Menschen herausgefordert und in ihren Bedürfnissen wahrgenommen werden. Sie ist getragen von der tiefen Überzeugung, dass jeder Mensch ein inhärentes Bedürfnis nach innerem Wachstum, Lernen und Entfaltung, aber auch nach Kooperation und Gemeinschaft hat. Menschen sind dann zufrieden oder gar glücklich, wenn sie sich als selbstwirksam erleben und lernen können.
Eine Kultur der Menschlichkeit zu entwickeln, ist Führungssache und daher eine strategische Aufgabe. Ohne ein echtes Commitment und wirkliche Überzeugung der obersten Führungsetage bleiben Kulturinitiativen wirkungslos und lösen Frust aus. Daher hat sich als erstes das Management mit der eigenen Haltung, dem Mindset und seinen Werten auseinanderzusetzen.
Sieben Teilkulturen
Eine Kultur der Menschlichkeit ist dann erreicht, wenn sie in folgenden sieben Teilbereichen umfänglich gelebt wird: Achtsamkeit, Feedback, Fehler, Verantwortung, Konflikte, Persönlichkeitsentwicklung und Empathie. Diese sieben Teilkulturen sind nicht strikt getrennt voneinander zu betrachten, sondern beeinflussen sich gegenseitig. Die Schritte für die Entwicklung jedes Bereichs folgen immer einem klaren Prinzip: Zuerst werden die Haltung, das Mindset und die Werte analysiert, aus welchen die jeweilige Teilkultur derzeit gelebt wird. Anschließend werden Ziele definiert, an denen die Entwicklung evaluiert werden kann und die zu implementierenden Maßnahmen ausgearbeitet. Dabei muss die oberste Führungsebene glaubhaft zeigen, dass sie sich ebenfalls dem Prozess unterzieht.
Eines sollte Ihnen bewusst sein: Es werden nicht alle Menschen die Veränderung mitgehen, auch wenn es darum geht, eine Kultur der Menschlichkeit zu entwickeln. Bleiben Sie trotzdem unbeirrt auf Ihrem Weg, Ihr Unternehmen humaner zu gestalten.
Die Autorinnen
Bettina Hoffmann-Ripken ist promovierte Volkswirtin der Universität St. Gallen. Als systemische Organisationsentwicklerin, Führungskräftecoach und Dozentin bringt sie ein umfangreiches Methodenset, Wissen und viel Neugierde ein. https://www.bho-network.ch
Andrea Barrueto studierte nachhaltige Entwicklung und ist als integraler Mastercoach tätig. In ihrer Arbeit fokussiert sie sich darauf, komplexe Zusammenhänge zu sehen, neue Strukturen zu schaffen und verschiedene Perspektiven zusammenzuführen. https://barrueto.ch
Buchtipp
Bettina Hoffmann-Ripken, Andrea Barrueto: Das Design humaner Unternehmen. Organisationsentwicklung jenseits von Mythos und Harmoniefalle, BusinessVillage 2023, ISBN: 978-3-86980-712-6
Tipps für die Entwicklung einer Kultur der Menschlichkeit
1. Mut zu definieren, was ist
Viele Kulturentwicklungsprozesse beginnen mit einem aufwendigen, partizipativ gestalteten Prozess, um die gewünschten Werte gemeinsam auszuarbeiten. Diese definierten und wünschenswerten Werte stehen häufig im krassen Widerspruch zur erlebten Kultur. Das löst Zynismus aus, aber keine Veränderungsenergie. Dagegen braucht es Mut, das zu definieren, was die gelebten Werte sind. Das sollte der Startpunkt sein. Und dazu muss die oberste Führungsebene ihre Verantwortung an der Ist-Kultur wahrnehmen.
2. Ohne Veränderung ändert sich nichts
Reden und Reflektieren wird zu keinen maßgeblichen Veränderungen führen, wenn sich nicht gleichzeitig an den Formaten, den Prozessen und dem Verhalten etwas ändert. Es bedarf anderer Formen der Begegnung sowie das Erlernen neuer Kompetenzen. Das können neue Methoden sein, wie z. B. Entscheidungsprozesse oder neue Meeting- und Gesprächsformate. Das Lernen sollte in den Alltag eingebettet sein und die neuen Methoden direkt ausprobiert und nach einer Phase des Übens evaluiert werden. Daneben gilt es immer auch zu überlegen, wer mit wem worüber bisher gesprochen hat und wie es in Zukunft ablaufen sollte.
3. Fokussieren auf eine Leitkultur
Wählen Sie zunächst eine Teilkultur aus, in der die Kultur Ihres Unternehmens schon eine Grundlage hat. Damit ist der Weg für baldige Erfolgserlebnisse und die Motivation der Mitarbeitenden geebnet. Mit Evaluationen am Anfang und während des Prozesses wird die Entwicklung gut dokumentiert. Führungskräfte zeigen damit Mut zur Transparenz und erfüllen ein wesentliches Prinzip: Verzicht von Leugnung. Jede Lernerfahrung bietet eine gute Grundlage für die Entwicklung der anderen Teilkulturen. Es gibt nicht den einen richtigen Weg, sondern jedes Unternehmen hat seinen Entwicklungsweg.
4. Professionell mit Widerstand umgehen
Wenn ein Veränderungsprozess gestartet wird, ist Widerstand sicher. Der Umgang damit kann und sollte geschult werden: Hören Sie den Menschen zu! Im Widerstand können verschiedene Botschaften enthalten sein. Nicht immer ist der Auslöser vermeintliche Angst vor dem Neuen oder erlebte Unsicherheit, möglicherweise wurde etwas Bedeutsames übersehen. In welcher Form gegenläufige Meinungen in den Prozess integriert werden können, sollte man bereits im begleitenden Kommunikationsplan berücksichtigen. Die Etablierung eines sogenannten »Soundingboards« ist in solchen Prozessen zwingend.