Seit Jahrzehnten hinkt das österreichische Bildungssystem der Forschung hinterher. Die Folgen zeigen sich bereits jetzt, unter anderem im Lehrlings- und Fachkräftemangel. Für die Wirtschaft aber braucht es auch in Zukunft gut ausgebildete und motivierte junge Menschen. Was muss sich tun?
Im Jänner veröffentlichte die Beratungsagentur EY erschreckende Zahlen: 82 Prozent der befragten österreichischen Unternehmen finden kein qualifiziertes Personal – und das branchenübergreifend. Aber woran liegt das? Von einem Fachkräftemangel spricht man, wenn die Nachfrage nach Menschen mit einer bestimmten Ausbildung nicht bedient werden kann. Das Problem: Diese Fachkräfte werden immer älter und der demografische Wandel macht es schwerer, die Nachfrage zu bedienen. Besonders in technischen und handwerklichen Berufen, in denen längere Erwerbstätigkeit aufgrund der hohen körperlichen Anstrengung oft nicht möglich ist.
Für die junge Generation sind technische Berufe aber offenbar nicht attraktiv. Kompliziert, anstrengend und viel Mathe, so das nach wie vor vorherrschende Narrativ – »dabei braucht es gerade in diesen Feldern auch viel Kreativität und Fähigkeiten zur Problemlösung«, findet Kurt Schmid vom Institut für Bildungsforschung der Wirtschaft (ibw). »Außerdem erlebt man eine hohe Selbstwirksamkeit, wenn Ideen praktisch umgesetzt werden.« Tatsächlich sind die Lehrlingszahlen in der Industrie zuletzt sogar gestiegen – aufgrund regionaler Mismatchs allerdings nicht dort, wo sie so dringend gebraucht werden. »Dass das Interesse an technischen Ausbildungen – gerade auch bei jungen Frauen – weiterhin zu gering ist und sich auf wenige prominente Angebote, z. B. Kfz-Mechaniker*in, beschränkt, hat auch mit der gerade an den AHS-Unterstufen mangelhaften Bildungs- und Berufsorientierung zu tun«, vermutet Gudrun Feucht, Bereichsleiterin für Bildung und Gesellschaft bei der österreichischen Industriellenvereinigung (IV).
Berufsorientierung findet hauptsächlich in Mittelschulen und Polytechnischen Schulen (PTS) statt. In der AHS Unterstufe und Sekundarstufe II kommt das Thema oft zu kurz. Welche Ausbildungsmöglichkeiten es gibt, welche Aufstiegs- und welche Weiterbildungschancen – auch in der Lehre – wird nicht vermittelt. Darunter leidet das Image. Noch heute raten manche Eltern ihren Kindern gar von einer Lehre ab. Dabei sei das österreichische Berufsbildungssystem grundsätzlich sehr gut, meint Schmid. Die Probleme lägen vielmehr im vorgelagerten Bereich, nämlich in der Grundbildung. Er warnt: »Mehr als ein Viertel der Auszubildenden können nicht richtig lesen, schreiben und rechnen.« Dieses Feedback erreicht auch die IV, berichtet Gudrun Feucht: »Demnach sind die Grundkompetenzen angehender Lehrlinge insbesondere in Deutsch und Mathematik oftmals sehr mangelhaft.«
Bild: Gudrun Feucht, IV: »Die Grundkompetenzen angehender Lehrlinge sind oftmals sehr mangelhaft – vor allem bei Lehrstellen in der Industrie mit hohen Anforderungen.«
Problemschulen
Sind also die Schulen schuld am Fachkräftemangel? Tatsächlich ist das österreichische Schulsystem für viele ein Sorgenkind: Bildungsexpert*innen fordern seit Jahrzehnten Reformen, Lehrer*innen klagen über zu wenig Zeit, und eigentlich alle ärgern sich über die höchstens mittelmäßige PISA-Ergebnisse. Und das obwohl Österreich eines der teuersten Bildungssysteme der Welt unterhält: 2021 flossen rund 22,3 Milliarden öffentlicher Gelder in Schulen und Universitäten.
Sogar »Mr. PISA« selbst, Bildungsforscher Andreas Schleicher vom OECD, stellt Österreich nur ein »zufriedenstellend« aus: Er fordert anspruchsvollere Lernziele, mehr Anstrengungsbereitschaft seitens der Kinder, aber auch die stärkere Einbindung von Eltern – und mehr Zeit für die individuelle Betreuung in der Schule. »Jeder Schüler muss seinen Bedürfnissen nach gefördert werden«, empfahl Schleicher auf einer Bildungsveranstaltung der IV Anfang März. Der digitale Unterricht während Corona habe gezeigt, dass Schüler*innen mit engerem persönlichem Kontakt zu ihren Lehrer*innen auch selbstbewusster und sicherer allein lernen konnten.
Problematisch sei auch die bestehende starke Chancenungleichheit in Österreich, die den Bildungsweg vieler Kinder maßgeblich beeinflusse. Johannes Kopf, Vorstandsvorsitzender des AMS, sieht das ähnlich: »Was die Eltern nicht leisten können, muss der Staat ausgleichen«, so Kopf. »Man muss dafür sorgen, dass kein Kind aus der Schule fällt.« Dafür aber fehle es dem Schulsystem an Flexibilität, argumentiert Bildungsexperte Kurt Schmid. »Leistungsversagen wird individualisiert.« Anstatt dafür zu sorgen, dass ein Kind auch alles verstanden habe, werde lieber den Noten nach »ausselektiert«. Schmid fordert darum dringend mehr schulische Nachhilfeangebote. Außerdem brauche es eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den Lehrer*innen am Schulstandort – auch im Sinne eines gemeinsam erarbeiten, schulstandortspezifischen pädagogischen Konzepts.
Von klein auf
Gute Bildung aber beginnt nicht erst in der Schule. Ob ein Kind gerne lernt und sich Herausforderungen zutraut, wird schon im Kindergartenalter geprägt. »Je früher Kinder Partizipation lernen, desto eher entwickeln sie auch ein Gefühl von Selbstwirksamkeit und ein Selbstbewusstsein«, erklärt Clara Gomes-Koban.
Die Bildungspsychologin arbeitet für den Verein FREI.Spiel, eine Freiwilligenorganisation, die in Schulen und Kindergärten unterstützen, indem sie unter der Anleitung des Personals mit Kindern lernen, spielen oder ihnen Aufmerksamkeit schenken. Etwas, dass das Elternhaus – und die Padägog*innen selbst – aufgrund von Zeitmangel oft nicht in dem Maße leisten können, wie es die Kinder brauchen. »Viele Kinder wissen, dass Lernen wichtig ist. Lernrückschläge oder punktuelle Schwächen können jedoch – wenn sie nicht reflektiert werden – dazu führen, dass Kinder ein ungünstiges Selbstbild entwickeln«, führt Gomes-Koban aus. So werden Fehler auf die eigene Persönlichkeit zurückgeführt, und ein Kind traue sich selbst weniger zu.
Bleibe konstruktives Feedback aus, werde das Thema unbewusst bagatellisiert – und damit schwindet auch die Lernmotivation. »Wir können und wollen keine Pädagoginnen ersetzen. Aber wir versuchen, gemeinsam mit Schulen und Kindergärten dort auszuhelfen, wo Kinder gerade jetzt Unterstützung brauchen«, erklärt FREI.Spiel Geschäftsführerin und Gründerin, Doris Salvarani-Drill. »Wo Eltern nicht da sein können, müssen Schulen mehr Verantwortung übernehmen, zum Beispiel durch Ganztagsschulen. Aber wir plädieren auch dafür, die Zivilgesellschaft stärker einzubinden.« Neben freiwilligen Helfer*innen könnten diese Funktion auch multiprofessionelle Teams aus Sozial- und Freizeitpädagog*innen übernehmen.
Schulen richtig führen
Allein aus wirtschaftlicher Sicht ist Bildung ein wichtiger Standortfaktor. So sehen Ökonomen wie Ludger Wößmann einen klaren Zusammenhang: »Hohe Bildungsleistungen der Bevölkerung sind wohl der wichtigste Faktor für das langfristige Produktivitätswachstum von Volkswirtschaften«, schreibt er in einem Bericht fürs deutsche ifo-Institut. Warum also nicht auch Schulen mehr wie Unternehmen führen? Dafür plädierten auch die Expert*innen beim Bildungspodium der IV in Wien. Zum Beispiel Nikolas Griller, Firmenerbe der GG Group und im Vorstand der Stiftung für Wirtschaftsbildung: »Schulen brauchen klare, messbare Bildungsziele und einen stärkeren Fokus auf Personalentwicklung und Führungskompetenzen.«
Auch die Industriellenvereinigung fordert mehr Transparenz, regelmäßige Evaluierungen und eine umfassende Schulautonomie: »Eine klare Abkehr von der aktuellen Weisungskultur, hin zu einem deutlichen Handlungsrahmen für autonom agierende Schulen, ist unserer Ansicht nach der Schlüssel«, erläutert Gudrun Feucht.
Gemeinsam mit Expert*innen hat die IV ein ganzes Paket an Handlungsempfehlungen für die Elementarpädagogik bis hin zur Hochschule entwickelt. Inhaltlich geht es um eine Reform des Schulsystems selbst: eine gemeinsame Schule bis zur 8. Schulstufe, ein stärkerer Fokus auf Kompetenzbildung und individuelle Talente, ein ganztägiges Betreuungsangebot sowie eine »Bildungspflicht« bis zum Ende der Sekundarstufe I. So soll sichergestellt werden, dass Schüler*innen die Basics in allen Fächern und IKT sicher beherrschen. Gleichzeitig sollen »Soft Skills« wie Lernfähigkeit, Eigeninitiative und Innovationsbereitschaft intensiver gefördert werden.
Dafür müssen aber auch die Lehrenden selbst eine qualitativ höhere Ausbildung erhalten. Es brauche im Kollegium eine starke Teamarbeit und einen Konsens über Ziele und Bewertungsrichtlinien – sowie stärker evidenzorientierten Unterricht, mit, Zitat Feucht: »mehr Daten gegen ideologische Schulkonzepte«. Schulen sollten transparenter mit ihren Erfahrungen und ehrlicher mit Verbesserungspotenzialen umgehen, und sich intern stärker austauschen. Pädagogischen Führungskräften kommt dabei eine besondere Rolle zu: Sie müssen die Lehrerschaft motivieren, Ideen vorantreiben und die Schule effizient managen. Auch hier brauche es mehr Weiterbildungsangebote. Umgesetzt werden könnte das Programm über einen parteiübergreifenden Bildungsdialog, in dem mittelfristige Ziele fixiert und außer Streit gestellt werden. Die auf dem Arbeitsmarkt gefragten Kompetenzen könnte eine sogenannten »Skills Agency« identifizieren.
Bild: »Die Strukturen haben sich seit 60 Jahren nicht verändert«, kritisierte Doris Pfingstner (2. v.r.), Schulleiterin der Mittelschule Aspern, beim IV-Podium.
Auf die Arbeit vorbereiten
»Wenn wir es schaffen, diese Grundkompetenzen zu verbessern – und zwar vom Kindergarten an –, dann erledigen sich viele Probleme von selbst«, kommentiert Viktor Fleischer, Experte für Berufsbildung bei der IV. »Es gibt viele engagierte Arbeitgeber, die ihre Lehrlinge gerne stärker fördern möchten«, so Fleischer. Viele heimische Betriebe erwarten auch darum von der Regierung mehr Hilfen, wie auch die anfangs zitierte Studie von EY feststellt. Demnach wünscht sich mehr als jedes zweite Unternehmen eine Bildungsförderung für qualifizierte Fachkräfte bzw. die verstärkte Förderung von Weiterbildungsmaßnahmen. Rund ein Viertel wünscht sich mehr MINT-Förderung in Schulen.
»Der Erwerb von Basiskompetenzen ist ein unverzichtbarer Grundstein für jede weitere Lernphase«, schreibt Julia Bock-Schappelwein, Ökonomin bei der WIFO. Gerade im Zusammenhang mit lebenslangem Lernen – wie es der technologische Fortschritt erfordert – ist eine gute Schulbildung von enormer Bedeutung. Wer in der Schule gerne gelernt hat, dem fällt es tendenziell auch später leichter. Eine Gesellschaft, die das Interesse am Dazulernen und Neuentdecken verliert, kann weder ökonomisch noch demokratisch gewollt sein.