Bernhard Kittel, Wirtschaftssoziologe an der Universität Wien, erforscht gemeinsam mit einem multidisziplinären Team die gesellschaftlichen Auswirkungen der Coronakrise in Österreich. Er macht eine verfehlte Kommunikationsstrategie der Regierung für die wachsende Skepsis der Bevölkerung verantwortlich.
(+) plus: Laut Statistik Austria war die Lebenszufriedenheit der Österreicherinnen und Österreicher zumindest bis Juli unverändert hoch. Durch das »Austrian Corona Panel« haben Sie einen tieferen Einblick in die Befindlichkeit der Menschen. Sind wir wirklich so resilient?
Bernhard Kittel: Es ist auch mein Eindruck, dass der erste Lockdown und die Sommermonate wenig an der Lebenszufriedenheit geändert haben. Ab dem Herbst sehen wir leichte Rückgänge, aber keine großen Verschiebungen.
(+) plus: Einige sehen in der Pandemie einen Anstoß, ihre Lebensweise zu überdenken. Macht uns die Krise zu besseren Menschen?
Kittel: Nein, das glaube ich nicht. Selbst bei großen Einschnitten wie dem Ersten und Zweiten Weltkrieg haben sich die Einstellungen der Menschen nicht grundlegend geändert. Sie passen sich an die Bedingungen an. Derzeit verschieben viele ihren Skiurlaub – in der Hoffnung, dass nächstes Jahr wieder alles in Ordnung ist. Ich sehe keine substanziellen Änderungen bei grundlegenden Einstellungen. Im Frühling hatten einige Menschen noch diesen Optimismus, sie sind aber recht schnell wieder in der Realität angekommen.
(+) plus: Welchen Stellenwert hat Arbeit in unserem Leben?
Kittel: Wir werten unsere Daten auch dahingehend aus, wie sich Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit auf das Wohlbefinden auswirken. Basis ist der Depressionsrisikoindex der WHO. Jene, die arbeitslos wurden, zeigen diesbezüglich sehr deutliche Einbußen, während wir bei jenen, die in Kurzarbeit waren, keinen Unterschied zu den Beschäftigten sehen. Die Kurzarbeits-regelung, die ja immerhin ein Viertel der Erwerbstätigen betraf, schützte definitiv vor schweren psychischen Problemen.
Die derzeit rund 530.000 Arbeitslosen sind entsprechend stark gefährdet. Als zweite große Gruppe sind alleinerziehende Frauen betroffen. Des Weiteren stehen kleine Selbstständige, die zum Beispiel in der Gig-Economy tätig sind, oft vor den Trümmern ihrer Existenz. Diese Gruppe sollte man bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nicht vergessen.
(+) plus: Gab es eine Neubewertung des Faktors Zeit? In Österreich zählen ja viele Menschen geradezu die verbleibenden Jahre bis zum Pensionsantritt – durch den Lockdown oder Kurzarbeit hatten sie plötzlich unverhofft Zeit »gewonnen«.
Kittel: Obwohl Arbeit in Österreich einen hohen Stellenwert einnimmt, ist sie gegenüber der Bedeutung von Freizeit dennoch zurückgestellt. Fragt man in einer Studie jedoch »Was würden Sie tun, wenn Sie z.B. nach einem Lottogewinn nicht mehr arbeiten müssten?«, liegt Österreich beim Anteil jener Menschen, die trotzdem weiterarbeiten würden, im internationalen Vergleich weit voran.
Das ist ein bisschen paradox. In Österreich wird die Beitragsleistung zur Gesamtwohlfahrt im sozialen Miteinander extrem hoch bewertet. Viele, deren Arbeit nicht so schön ist, hält die Hoffnung auf die Pension aufrecht. Gibt man die Arbeit auf, verliert man den gesellschaftlichen Status. Als Pensionist hat man aber einen Status, der allgemein anerkannt ist.
(+) plus: Hat die Krise Auswirkungen auf das Konsumverhalten?
Kittel: Die Krise hat Entwicklungen akzentuiert und Diffenzierungen verschärft – in jeder Hinsicht. Einen gewissen Nachholeffekt wird es sicher geben, der kann aber nicht die Ausfälle kompensieren. Ich sehe kein großes Umdenken hin zu einer neuen Bescheidenheit. Statt für Urlaub wurde das Geld eben für Essen oder eine neue Couch ausgegeben. Das bedeutet aber auch, dass im folgenden Jahr keine Möbel gekauft werden.
(+) plus: Vom gesellschaftlichen Zusammenhalt zur Spaltung war es nur ein kurzer Weg. Wie kann dieser Graben überwunden werden?
Kittel: Wie sehen wachsende Ungeduld und damit einhergehend eine sinkende Bereitschaft, sich Maßnahmen anzuschließen. Im Dezember wurde umfangreich über die Impfung kommuniziert, trotzdem ist die Gruppe der Impf-skeptiker erstaunlich groß. Sie bezieht ihre Informationen vorwiegend über Facebook und ist offensichtlich nicht mehr über seriöse Berichterstattung zu erreichen.
(+) plus: Kann man diese Menschen noch überzeugen?
Kittel: Es muss ein stärkerer Diskurs innerhalb der Bevölkerung stattfinden. Auf diese Entwicklung haben wir schon vor Monaten hingewiesen, sie war in unseren Daten bereits deutlich ablesbar. »Deliberative Poll« ist eine Methode, die bei kontroversiellen Themen zu einem gesellschaftlichen Konsens führen kann. Eine repräsentative Auswahl der Bevölkerung diskutiert mit Expertinnen und Experten und wägt in einem transparenten Prozess unterschiedliche Meinungen ab. So ein offener Diskurs kann sehr hilfreich sein und Menschen dazu bringen, weniger impulshaft zu denken. Momentan ist der Diskurs von Gegnerschaft geprägt.
Der Begriff »Massentest« hat sicher dazu beigetragen, dass sich so wenige Leute testen ließen. Niemand fühlt sich als Teil der Masse. Das entspricht nicht unserer Lebenswelt und zeigt die technokratische Denkweise der Politiker. Auch der Begriff »Freitesten« war falsch gewählt; er suggeriert, dass wir vorher im Gefängnis waren. Diese verfehlte Kommunikation erzeugt in einer demokratischen Gesellschaft Widerstand. Demokratie ist ein mühsamer Prozess – man muss ihn aber respektieren, wenn man selbst akzeptiert werden will.
Das Projekt
Seit Ende März 2020 befragen WissenschafterInnen der Universität Wien für das »Austrian Corona Panel Project« monatlich 1.500 Menschen zu Einstellungen, Verhalten und Reaktionen im Umgang mit der Pandemie. Die Langzeitstudie wird vom Wissenschaftsfonds FWF finanziert.