Im Zuge des Brexit sind viele rechtliche Fragen zu klären, die Unternehmen direkt treffen, wie Zölle, Steuern oder regulatorische Handelsbarrieren. Auch das geplante europäische Einheitspatent steht auf dem Spiel.
Am 23. Juni 2016 stimmten 51,9 % der Briten für einen Austritt aus der Europäischen Union. Die Tragweite des Referendums offenbart sich vielen Wählerinnen und Wählern erst nach und nach. Auch ausländischen Institutionen und Unternehmen wird langsam schmerzlich bewusst, wie schwierig sich die Neuordnung der Beziehungen gestalten könnte. Internationale Forschungseinrichtungen, der Automobilcluster Coventry und der Finanzplatz London sind ebenso betroffen wie bilaterale Verträge und unzählige Europäer, die in Großbritannien beruflich tätig sind. Von den bevorstehenden Verhandlungen über die Austrittsmodalitäten und das spätere Verhältnis zur Staatengemeinschaft hängt alles ab.
In jedem Fall wird der Brexit teuer – und zwar auch für die in der EU verbleibenden Mitgliedsländer. Österreichs Beitrag für das Brüsseler Budget könnte um knapp 400 Millionen Euro steigen, wie das Berliner Jacques-Delors-Institut berechnete. Konkrete Zahlen gibt es allerdings noch nicht, da das ab 2021 geltende EU-Mehrjahresbudget noch nicht verhandelt wurde. Dass die Nettozahler Österreich, Deutschland, Schweden und die Niederlande das Brexit-Finanzloch stopfen werden müssen, erwartet jedoch auch EU-Budgetkommissar Günther Oettinger. Diese vier Länder profitierten bisher nämlich von einer Vergünstigung bei den Beitragszahlungen, die mit dem Austritt Großbritanniens wegfällt, weshalb sie nun stärker als die übrigen Mitglieder belastet würden.
Wichtiger Wirtschaftspartner
Großbritannien, immerhin zweitgrößtes Mitgliedsland der EU, ist für Österreichs Wirtschaft kein zentraler, aber nicht unbedeutender Markt. 2016 erreichte das österreichische Exportvolumen knapp sechs Milliarden Euro, was einem Plus von 5,9 % entspricht. Großbritannien belegt damit unter Österreichs Exportzielländern den achten Rang. Auf der Importseite liegt UK an zwölfter Stelle. Auch Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl wies anlässlich des Besuchs von Prince Charles auf die »jahrzehntelangen guten wirtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und Österreich« hin.
Österreichische Unternehmen sind auf der Insel in den Nischen Umwelttechnologie, erneuerbare Energien, Biomasse und Passivhausbau gut etabliert. Leitbetriebe wie der Baustoffkonzern Wienerberger und Maschinenbauer Engel betreiben eigene Standorte. Der Technologiekonzern Kapsch eröffnete erst im November 2015 eine Niederlassung in London, um von dort aus Mobilitätslösungen für das britische Transportwesen besser vorantreiben zu können. Mehr als 40 % der österreichischen Ausfuhren betreffen Maschinen, Anlagen und Fahrzeuge. Dieses Know-how sieht Leitl nicht gefährdet: »Österreichische Unternehmen haben künftig weiter gute Chancen als Zulieferer von Autokomponenten und Produktionsanlagen, aber auch als Fertigungspartner.« Die rund 250 Niederlassungen heimischer Unternehmen beschäftigen über 35.000 Briten. Fachkräfte sind aufgrund des schlechten Ausbildungssystems freilich Mangelware – ein weiteres Problem, das der Brexit durch die strittige Freizügigkeit des Personenverkehrs verschärfen könnte.
Unsicheres Drittland
Unabhängig davon, ob am Ende der Verhandlungen eine »harte« oder ein »weiche« Scheidung vom abtrünnigen EU-Mitglied steht, der freie Dienstleistungsverkehr über die Grenze bleibt vermutlich nicht bestehen und Qualifikationsnachweise werden wohl nicht mehr wechselseitig anerkannt. »Mit dem Wegfall des freien Warenverkehrs können künftig Produkte aus dem Vereinigten Königreich im EU-Binnenmarkt nicht mehr frei zirkulieren, die CE-Kennzeichnungen werden möglicherweise nicht mehr gültig sein«, erläutern Michaela Pelinka und Katharina Wilding von der Kanzlei bpv Hügel Rechtsanwälte. Auswirkungen sind zudem im Bereich Datenschutz möglich, sollte UK künftig als »unsicheres Drittland« eingestuft werden.
Auch Zölle, Umsatzsteuer und Körperschaftssteuer sind betroffen. Sofern zum Austrittszeitpunkt keine Freihandelsabkommen mit Großbritannien in Kraft treten, werden auf den Warenverkehr neben Einfuhrumsatzsteuern auch reguläre Drittlandzölle eingehoben. »Zollabgaben sind im Gegensatz zur Einfuhrumsatzsteuer nicht abzugsfähig. Daher müssen Unternehmen den Mehraufwand in zukünftigen Preisverhandlungen berücksichtigen«, sagt Christian Bürgler, Partner bei Deloitte Österreich.
Verträge prüfen
Bernhard Gröhs, Managing Partner von Deloitte Österreich, rät Unternehmen, schon jetzt ihre Lieferkette und Verträge mit britischen Partnern zu überprüfen, auch wenn es bis zum Vollzug des Brexit noch zwei Jahre dauert: »Die zukünftigen Folgen des britischen EU-Austritts sind vielfältig und werden ihre Spuren im wirtschaftlichen Alltag hinterlassen.« Derzeit verharren noch viele Firmen in Warteposition. An Abwanderung denkt unter den Österreichern noch kaum jemand, Expansionspläne bleiben jedoch vorläufig in der Schublade, wie der österreichische Wirtschaftsdelegierte Christian Kesberg bestätigt: »Sie warten, was passiert.« Sekundäreffekte könnten jedoch über den Umweg Deutschland drohen. Erhält Österreichs wichtigster Handelspartner einen Dämpfer, wirkt sich das unweigerlich auch auf unsere Wirtschaft aus. Der steirische Antriebstechnik-Spezialist AVL List will dennoch die geplanten Investitionen durchziehen und im Zentrum der englischen Autoindustrie in Coventry ein Tech-Center errichten, um »möglichst nahe am Kunden« zu sein, wie Vorstandschef Helmut List bestätigte.
Foto: AVL List errichtet im Automobilcluster Coventry ein Tech-Center, um »näher am Kunden« zu sein, so CEO Helmut List.
Laut einer Umfrage der Beratungsorganisation EY unter 254 Unternehmen, von denen drei Viertel ihren Sitz oder eine Niederlassung in UK haben, spüren bereits 71 % der Befragten konkrete Auswirkungen in ihrem Geschäft. Das betrifft vor allem Gewinnmargen und Einkaufspreise – das britische Pfund hat infolge des Votums massiv an Wert verloren, was Importe nach Großbritannien deutlich verteuerte. Exportorientierte Unternehmen stellt das vor erhebliche Herausforderungen, meint Helmut Maukner, Country Managing Partner bei EY Österreich: »Grenzüberschreitende Lieferketten mit Großbritannien bringen neue Risiken mit sich, die kurzfristige Produktionsanpassungen notwendig machen können. Neue tarifäre und nicht-tarifäre Handelshemmnisse, zusätzliche bürokratische Hürden und neue steuerrechtliche Regelungen können für viele Unternehmen eine echte Belastung sein.«
Firmensitz verlegen
Gerade die Niederlassungsfreiheit für Unternehmen – neben der Arbeitnehmerfreizügigkeit für viele Briten ein Motiv, um für den Austritt zu stimmen – wird mit großer Wahrscheinlichkeit nicht weiterbestehen. Bisher hatten europäische Gesellschaften das Recht, in jedem anderen EU-Mitgliedsland unternehmerisch tätig zu werden. So war es beispielsweise möglich, Unternehmen als »Limited« in England zu gründen und nach Österreich zu verlegen – mit wesentlich geringeren Anforderungen an das Stammkapital. Mit dem Brexit sei »die Sitztheorie maßgeblich«, so die Wirtschaftsanwältinnen Pelinka und Wilding: »In Österreich ansässige britische Gesellschaften würden dadurch von einem Tag auf den anderen ihre Anerkennung in Österreich verlieren.« Kurt Retter, Partner der Sozietät Wolf Theiss, empfiehlt in UK tätigen Unternehmen, die Gründung einer britischen Tochter zu überlegen, um sich abzusichern. Österreicher, die in Großbritannien arbeiten, sollten »schnellstmöglich eine schriftliche Aufenthaltsbestätigung beantragen«, so Retter.
Foto: Michaela Pelinka, bpv Hügel Rechtsanwälte: »Großbritannien wird als unsicheres Drittland eingestuft.«
Niklas Schmidt, Steurerrechtsexperte bei Wolf Theiss, sieht am Brexit auch positive Seiten: »Steuerrechtlich wird das Königreich an Flexibilität gewinnen: Es steht im Raum, die Körperschaftssteuer von 20 auf 15 % zu senken, um für Firmen attraktiver zu werden.« Das Vorhaben, die Bemessungsgrundlage für die Unternehmensbesteuerung innerhalb der EU zu vereinheitlichen, bekommt jedenfalls wieder Rückenwind. Bisher bremste die britische Regierung die Einigung auf eine gemeinsame CCCTB (»Common Consolidated Corporate Tax Base«) – mit dem Brexit scheint die Umsetzung realistischer. Auch die umstrittene Finanztransaktionssteuer FFT wird wieder thematisiert. Hier legte sich Großbritannien ebenfalls quer. Durch das Ausscheiden des Hauptgegners könnte sie in der restlichen EU abermals aufs Tapet kommen.
Einheitspatent in Reichweite
Während über diese Szenarien derzeit nur spekuliert werden kann, befinden sich die im Patentwesen anberaumten Reformen praktisch in der Zielgerade. Auf dem Spiel stehen das geplante Einheitspatent – der offizielle Name lautet »Europäisches Patent mit einheitlicher Wirkung« (EpeW) – und das Einheitliche Patentgericht, das noch 2017 seine Arbeit aufnehmen sollte. Seit langem wurde darum gerungen: Das seit 40 Jahren in Kraft befindliche Europäische Patentübereinkommen (EPÜ) hatte sich trotz großer Akzeptanz – mit fast 300.000 Einreichungen und rund 96.000 erteilten Patenten erreichte man 2016 Rekordwerte – als unzureichend erwiesen. Die Vereinheitlichung bezieht sich nämlich nur auf das Erteilungsverfahren. Danach gilt das europäische Patent wie ein nationales Patent und muss für jeden einzelnen Vertragsstaat aufrechterhalten werden.
Das Einheitspatent soll nun endlich einen flächendeckenden, effizienten und kostengünstigen Patentschutz schaffen. Ein Kompromiss scheiterte über Jahrzehnte an wesentlichen Fragen wie der Sprachenregelung und dem Gerichtssystem, schien zuletzt aber in greifbarer Nähe. Elf Staaten haben das neue Abkommen bis jetzt unterzeichnet; Voraussetzung ist die Ratifizierung durch 13 Vertragsstaaten, darunter Großbritannien, Deutschland und Frankreich. Das Votum für den EU-Austritt bewirkte zunächst eine Schockstarre, schließlich bekannte sich die britische Regierung jedoch zu der geplanten Reform. »Im Lichte des Brexit-Referendums ist diese Entscheidung beachtlich«, meint Rechtsanwalt Christian Gassauer-Fleissner, der von 2009 bis 2014 als Vorstandsmitglied bzw. Präsident der European Patent Lawyers Association fungierte: »Großbritannien unterwirft sich weiterhin der vom EuGH für die Zulässigkeit des neuen Patentsystems geforderten Bedingungen. Dazu gehören die Anerkennung der Priorität Europäischen Rechts und die Möglichkeit, Entscheidungen des Einheitlichen Patentgerichts vor dem EuGH bekämpfen zu können.«
Foto: Anwalt Christian Gassauer-Fleissner hält das Bekenntnis zum neuen Patentsystem »im Lichte des Brexit-Votums beachtlich«.
Allerdings erteilte Großbritanniens die Zustimmung nur mit Vorbehalt, wonach diese Erklärung unpräjudiziell für die Brexit-Verhandlungen mit der EU sind. Für einen weiteren Widerspruch sorgte die Premierministerin selbst: Theresa May betonte wiederholt und nachdrücklich, mit dem Austritt auch die Zuständigkeit des EuGH für das Vereinigte Königreich zu beenden. Die Frage der Beteiligung von Nicht-EU-Staaten am Patentgericht wird Teil der Scheidungsverhandlungen sein. Gibt es aus London grünes Licht, könnte ein einheitliches Patentwesen Ende 2017 doch Wirklichkeit werden.
Hintergrund: Hart auf hart
Das künftige Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU hängt davon ab, welche Seite ihre Strategie und Ziele erfolgreich durchsetzen kann. »Ein Scheitern der Verhandlung ist nicht auszuschließen«, meint Matthias Schranner, CEO des Negotiation Institute in Zürich. Aus der Sicht eines Verhandlungsprofis skizziert er folgendes Szenario.
29. April 2017: Beim EU-Sondergipfel in Rom legen die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Länder als »Decision Maker« ein Maximal- und ein Minimalziel fest. Wird das Minimalziel nicht erreicht, scheitern die Verhandlungen und es gibt einen ungeregelten Ausstieg. Die Aussage von Großbritanniens Regierungschefin Theresa May »Let's be clear, no deal is better than a bad deal« ist insofern schwer nachvollziehbar, da »no deal« auch keinerlei Kontrolle über die folgenden Prozesse bedeutet.
Mai 2017: Der Europäische Rat erteilt Chefunterhändler Michel Barnier das Verhandlungsmandat. In der Rolle des »Commanders« behält er über den gesamten Zeitraum die Übersicht, alle Informationen laufen bei ihm zusammen. Er sollte zwei Teams bilden, die unabhängig voneinander verhandeln:
Das Brexit-Team treibt die »Scheidung« voran. Diese Verhandlungen werden sehr konfrontativ geführt, da es keine gemeinsame Zielsetzung für die Zeit danach gibt. Zudem stehen hohe Geldforderungen im Raum. Das Team für die Handelsabkommen sucht Möglichkeiten einer Zusammenarbeit nach dem Brexit. Diese Verhandlungen werden kooperativ geführt, da es eine gemeinsame Zukunft geben könnte. Großbritannien hat bereits ein Vermischen der Themen gefordert. Barnier darf wegen der widersprechenden Zielsetzungen und Strategien keinesfalls zustimmen und auch nicht selbst an den Verhandlungen teilnehmen, um den Überblick nicht zu verlieren. Idealer wäre eine Kürzung der Verhandlungsphase bis Juli 2018. Mehrere kleine Teams sind effektiver als große Verhandlungsrunden. Eine Nachrichtensperre muss von beiden Seiten strikt eingehalten werden, die Öffentlichkeit wird im Abstand von drei Monaten über den aktuellen Stand informiert.
Oktober 2018: Michel Barnier legt dem Europäischen Rat die Verhandlungsergebnisse vor. Werden sie genehmigt, hätten Juristen noch ca. drei Monate Zeit für die Ausarbeitung der Verträge. Danach folgen der Beschluss durch das Europäische Parlament und den Europäischen Rat.
29. März 2019: Großbritanniens Mitgliedschaft in der Europäischen Union endet – entweder geregelt mit einem Vertrag oder ungeregelt ohne Vertrag.
Foto: Verhandlungsprofi Matthias Schranner rät zu zwei Teams, die unabhängig die »Scheidung« und die künftige Zusammenarbeit verhandeln.