Sonntag, Dezember 22, 2024

Vor einigen Jahren noch als Zukunftsmarkt gehandelt, liegt die türkische Wirtschaft darnieder. Das Haushaltsdefizit ist auf 4,9 Milliarden Euro angewachsen. Die türkische Lira verlor seit Oktober 2016 rund 15 % ihres Werts. Mit 13 % erreichte die Arbeitslosigkeit den höchsten Stand seit sieben Jahren, die Jugendarbeitslosigkeit beträgt gar 24,5 %.  Die Türkei ist dennoch für Österreich ein wichtiger Partner. Die rund 180 österreichischen Unternehmen vor Ort beschäftigen 13.000 überwiegend türkische ArbeitnehmerInnen, auch das Management ist vorwiegend von Einheimischen besetzt. Doch die Diskrepanzen zwischen der EU und der Türkei und die demokratiepolitisch bedenklichen Entwicklungen im Land belasten das bilaterale Verhältnis. Wie geht es nach dem knappen Votum, das Präsident Erdogan mit noch größeren Machtbefugnissen ausstattet, weiter? Report (+) PLUS hat ExpertInnen um eine Einschätzung gebeten.

1. Welche Folgen hat das Referendum in wirtschaftlicher Hinsicht?

"Das ist noch nicht absehbar. Es ist zu hoffen, dass die Regierung und Präsident Erdogan auf die mahnenden Worte der Türkischen Industriellenvereinigung TÜSIAD hört und sich jetzt intensiv Wirtschaftsthemen und den lange erwarteten Wirtschaftsreformen widmet. Es gilt der steigenden Inflation und Arbeitslosigkeit Einhalt zu bieten und das Vertrauen ausländischer Investoren wieder herzustellen. Die nächsten Wochen und Monate werden zeigen in welche Richtung sich die Türkei bewegen wird. Nicht vergessen sollten wir, dass die meisten Änderungen in der Verfassung erst nach den nächsten Wahlen, die planmäßig 2019 stattfinden sollen, in Kraft treten werden."
Georg Karabaczek, Wirtschaftsdelegierter für die Türkei und Georgien im Österreichischen AußenwirtschaftsCenter Istanbul

"Die langfristigen wirtschaftlichen Folgen des Referendums sind schwierig vorauszusehen. Die sofortigen wirtschaftlichen Folgen sind wegen der politischen Stabilität sogar positiv: der Istanbuler Aktienindex hat am 24. April 2017 einen Rekord aufgestellt. Die türkische Lira zeigte nach dem Referendum leichte Erholungszeichen. Ob diese positiven Reaktionen von Dauer sind, ist offen; aus Sicht von Investoren ist eine stabile politische und wirtschaftliche Lage entscheidend. Ein mögliches Einfrieren bzw. eine Aufkündigung der EU-Beitrittsgespräche wegen der politischen Lage wäre, trotz der Zollunion zwischen EU und der Türkei, für ausländische Investoren keine vertrauensbildende Maßnahme. Der Rückgang der ausländischen Investitionen (aus verschiedenen Gründen) beeinträchtigt die Wirtschaft.
Andererseits will sich die türkische Regierung nach dem Verfassungsreferendum stärker um die Wirtschaft kümmern. Sie hatte schon zuvor einige Maßnahmen ergriffen, wie z.B. die Einführung des türkischen Staatsfonds, um Kapital für große Investitionen zu ziehen und die Wirtschaft zu stärken. Es bleibt abzuwarten, wie erfolgreich diese Maßnahmen sein werden. Wegen der politischen Lage ist es schwierig, optimistisch zu sein; allerdings ist die Türkei ein großer Markt mit viel Potenzial."
Ceyda Akbal Schwimann, Rechtsanwältin bei Wolf Theiss


2. Müssen österreichische Unternehmen mit Schwierigkeiten rechnen?

"Im Rahmen der politischen Spannungen zwischen Österreich und der Türkei im vergangenen Jahr spürten unsere Unternehmen teilweise Gegenwind, zu einem Boykott österreichischer Produkte kam es allerdings nicht. Grundsätzlich begrüßt die türkische Regierung ausländische Direktinvestitionen im Land, auch österreichische Unternehmen sind daher in der Türkei willkommen, das Land bietet weiterhin viel Potenzial."
Georg Karabaczek

"Das wirtschaftliche Risiko wegen der Schwäche der türkischen Lira gegenüber dem Euro ist momentan schwierig zu mindern. Neben diesen Schwierigkeiten sehe ich aber keine weiteren Probleme für österreichische bzw. europäische Unternehmen. Natürlich ist es wegen der politischen Spannung zwischen Österreich und der Türkei für österreichische Firmen nicht einfach, Aufträge von der türkischen Regierung und den staatsnahen Betrieben zu bekommen, aber nicht unmöglich. Es ist wichtig, mit korrekten, vertrauenswürdigen Geschäftspartnern zu kooperieren. Ich beobachte in meiner Praxis, dass türkische Gerichte oder Behörden gegenüber österreichischen Investoren nicht voreingenommen sind.
Eine besondere Schwierigkeit sehe ich aber generell im Kommunikationsbereich: Die kulturellen Unterschiede können auch im Wirtschaftsbereich oft zu Missverständnissen und möglicherweise zu Konflikten führen. Die derzeitigen politischen Spannungen und die Äußerungen der Politiker verursachen bzw. verstärken mögliche Voreingenommenheiten und könnten eventuell Partnerschaften beeinträchtigen. Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein, um das Vertrauen des Anderen zu gewinnen und mögliche Konflikte zu vermeiden."
Ceyda Akbal Schwimann


3. Schließt Erdogan die Türen nach Europa?

"Die EU und die Türkei sind Nachbarn und auch wirtschaftlich eng verflochten. 70 % der ausländischen Direktinvestitionen in der Türkei kommen aus der EU und 50 % des Außenhandels wird mit den EU-Ländern abgewickelt. Vor kurzem wurde beschlossen die Zollunion zwischen EU und Türkei zu vertiefen und zu erweitern. Wirtschaftlich gesehen ist daher davon auszugehen, dass die türkische Regierung versuchen wird, das Verhältnis zur EU wieder zu normalisieren."
Georg Karabaczek

"Die politischen Türen zur Europäischen Union schließen sich langsam, wenn sie denn jemals wirklich offen waren. In juristischer Hinsicht wird die Wiedereinführung der Todesstrafe die Türen nach Europa für die Türkei ganz bestimmt schließen. Jedenfalls sind die europäischen Länder und die Türkei wirtschaftlich und politisch wichtig füreinander. Nach einem offiziellen Einfrieren der EU-Beitrittsgespräche und möglicherweise einer Abkühlungszeit werden aus meiner Sicht die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Türkei und EU neu strukturiert. Ich glaube nicht, dass die langfristige wirtschaftliche Zusammenarbeit beendet bzw. stark eingeschränkt wird. Die Frage ist, wie stark eine wirtschaftliche Union oder auch Kooperation ohne politisches Einvernehmen sein kann – dies kann ich als Juristin nicht beantworten."
Ceyda Akbal Schwimann

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