Michelle Unger, General Manager Cognitive Solutions der IBM Watson Group Europe, ist überzeugt: Die Zukunft der IT sind assistierende Systeme, die Menschen helfen, bessere Entscheidungen zu treffen.
(+) plus: Welche Bedeutung hat Cognitive Computing für Unternehmen? Worum geht es dabei?
Michelle Unger: Es ist schlichtweg die nächste Generation, die Zukunft von Computersystemen. Kognitive Systeme werden dabei helfen, bessere Entscheidungen zu treffen und damit eine völlig neue Welt in vielen Wirtschaftsbereichen eröffnen.
Um mit einem Missverständnis aufzuräumen: Cognitive Computing hat nichts mit künstlicher Intelligenz zu tun. Diese ist ein Teil des Ganzen, wir wollen mit unserer Arbeit aber nicht die menschliche Intelligenz mit Maschinen simulieren. Mit unserer Cognitive-Computing-Plattform IBM Watson erweitern wir vielmehr die Analyse von Informationen, bündeln diese je nach Bedarf richtig und liefern damit eine in menschlichen Entscheidungsprozessen eingebettete Unterstützung.
Wir trennen hier ganz klar: Was können Menschen wirklich gut und was können Computer hervorragend? Wenn sie beides zusammennehmen – die Analyse von Daten in allen Formen und Ausprägungen sowie die Fähigkeit des Menschen zu situationsbedingten Einschätzungen – dann haben wir wundervolle Partnerschaft zum Nutzen für den Menschen. Letztlich geht es darum, dem Computer die Knochenarbeit der Datenanalyse, die diese zweifelslos ist, zu übertragen und die Ergebnisse daraus zum richtigen Zeitpunkt zu filtern.
(+) plus: Was wäre ein Beispiel für die Anwendung von kognitiven Systemen
Unger: IBM beschäftigt sich mit diesem Thema eigentlich am längsten im Gesundheitsbereich. Es gibt hier generell enorme Datenmengen, die weiter exponentiell wachsen – mit der medizinischen Dokumentation und wachsenden Bildmengen sowie nun auch mit neuen Lifestyle-Geräte wie »Wearables«. Es wird heute so viel Material produziert, dass Ärztinnen und Ärzte niemals die volle Übersicht über Therapiestandards und Erkenntnisse in den medizinischen Journalen und aus der Forschung bewahren können. Genau hier setzen kognitive Systeme an: Wir betten all diese oft weltweit verteilten Informationen, mitunter Millionen Bilddateien und die gesamte Dokumentation zu einem Patienten in einer assistierenden Lösung ein.
Sie kann den Fachkräften bei der Entscheidung für die beste Behandlung wertvolle Unterstützung bieten. Diese Hilfestellung ist wichtig: Da auch Experten nicht mehr über den gesamten Wissensstand ihres Gebiets verfügen können, entscheiden sie unweigerlich intuitiv – es werden Entscheidungen auf Basis von Erfahrungen getroffen, nach dem Motto »so habe ich es bisher gemacht«. Das ist in unserer schnell drehenden Welt nicht mehr zeitgemäß.
Nachdem es im Healthcare-Bereich bereits gut funktioniert, sind wir überzeugt, dass wir mit diesem Ansatz jede Wirtschaftssparte bedienen können.
(+) plus: Sprechen wir über Verkauf und Kundenservice. Was versprechen Sie Unternehmen hier
Unger: Jedes Unternehmen versucht heute herauszufinden, was die Kunden wollen, welche Ziele sie haben, wo sie Aktivitäten setzen werden. Mit einem kognitiven System bringen Sie alle diese Fragen auf einen Nenner und adressieren den Kunden mit den jeweils passenden Angeboten, genau zugeschnitten in einer natürlichen Art und Weise. Wir beschäftigen uns auch mit der Gestaltung von Computersystemen im direkten Kontakt mit dem Menschen. So könnte Cognitive Computing in Form eines menschlich aussehenden Roboters in einem Geschäft den Kunden auf einer natürlich empfundenen Ebene Ratschläge zum Kauf geben.
Eine Verkäuferin oder ein Verkäufer kann heute nicht mehr alle Fragen zu Produkten beantworten. Ein kognitives System kann dies sehr wohl und hilft, vor einer Kaufentscheidung alle Hintergründe zu verstehen. Auch Servicenummern und Callcenter-Systeme können damit verbessert werden. Jeder von uns kennt automatische Sprachdialogsysteme, die bekanntermaßen in ihrem Auftreten noch viel Luft nach oben haben. Wir wissen: Menschen wollen eigentlich direkt mit Menschen zu tun haben, auch wenn es um kleine Fragen oder lediglich vielleicht um eine technische Einstellung geht. Wo dieser direkte Kundenkontakt nicht möglich ist, springen wir ein. Ein kognitives System hat eine wesentlich größere Reaktionsvielfalt zu bieten als herkömmliche Lösungen, die nur auf bestimmte Schlagworte horchen.
(+) plus: Sie beschreiben eine neue Art der User-Interfaces, wie Menschen Anwendungen bedienen. Können wir uns darauf einstellen, dass Produkte und Services in Zukunft besser verstehen, was wir von ihnen wollen
Unger: Das Gute an Cognitive Computing ist, dass es nicht eine einzelne Lösung ist, sondern sich unzählige davon eröffnen. Dieses Mitdenken der IT, wie wir es auch sehen, wird künftig in allen Unternehmensprozessen möglich sein. IBM hat mit der Watson-Entwicklungsplattform einen sehr offenen Ansatz, um Anwendungen in alle Richtungen zu entwickeln. Das könnte eine Beratungshilfe sein, wenn jemand ein Bankkonto eröffnen will, oder die Unterstützung bei Anlegeformen und in der Vermögensverwaltung. Im Gesundheitsbereich ist einer der Partner, die mit IBM dazu arbeiten, Metronic. Das Unternehmen sagt Extremwerte bei Blutzuckerwerten voraus, damit können Patienten rechtzeitig gegensteuern.
Denken Sie nur, was alles möglich sein wird, wenn Sie Systeme haben, die sich aktiv mit einer Meldung wie »in drei Stunden werden Sie mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 % ein Problem haben. Essen Sie besser gleich etwas« an die Nutzer wenden. Unsere Arbeit ist nun, assistierende IT so unaufdringlich und unaufgeregt wie nur möglich ins Alltagsleben zu bringen.
(+) plus: Es gibt in der Industrie bereits Lösungen für die sogenannte »Predictive Maintenance«. Was macht Watson anders?
Unger: Derzeit arbeiten all diese Lösungen mit strukturierten Daten. Man hat starre Datenformate und bestimmte Variablen, an denen sich die Systeme orientieren. Mit Watson eröffnet sich ein Universum an Datenmaterial, das hinzugezogen wird. In einer Industrieanlage fühlen sich kognitive Systeme wie ein Experte an der Seite des Anwenders an, der auch Schritt für Schritt bei Aufgaben begleitet. So etwas können herkömmliche Datenanalyse-Tools nicht.
(+) plus: Wie lange dauert der Aufbau einer solchen Informationsarchitektur, wenn sich ein Unternehmen nun mit Cognitive Computing beschäftigen möchte?
Unger: Dies hängt natürlich vom Anwendungsfall und den vorhandenen Daten ab. Wir können den Nutzen der Watson-Plattform meist relativ rasch in Form eines ersten kleinen Anwendungsfalls, für den das System trainiert wurde, demonstrieren. IBM veranstaltet regelmäßig auch Programmierwettbewerbe, wo innerhalb von 48 Stunden Ansätze für gute Lösungen in Verbindung mit der Watson-Plattform entstehen.
Ist man vom Wert des Demonstrators überzeugt, wird darum herum dann agil ein größerer Case gebaut. Ein Beispiel wäre eine Lösung, die Servicetechniker zunächst bei den Reparaturen und Wartungsdiensten eines bestimmten Produkts assistiert, in weiterer Folge aber über eine breitere Palette trainiert wird. Gerade bei größeren Unternehmen sind oft bereits viel Wissen und Erfahrung da, was meist aber nicht gebündelt abrufbar ist.
Ein weiterer Anwendungsfall dazu ist Woodstock Power. Das Unternehmen ist im Technikbereich in der Öl- und Gas-Industrie tätig und setzt bei Wartungsarbeiten auf unsere Watson-Cloud-Plattform. Das heißt: auch wenn bei einem Kunden vor Ort kein Produktspezialist ist, können Mitarbeiter mithilfe des Systems reparieren und auf die Erfahrung von vielen Jahren zurückgreifen. Die Einsatzfälle gleichen sich zwar nicht immer haargenau, es ist aber schon hilfreich, wenn man Informationen zu einem Fall hat, der zu 97 % ähnlich gelagert ist. Unser Tipp jedenfalls ist: klein anfangen und sukzessive erweitern.
IBM Watson
1997 besiegte der IBM-Großrechner Deep Blue den damaligen Schach-Weltmeister Garry Kasparov. Watson beruht auch auf einem neuen Ansatz: Die Architektur ist darauf ausgelegt, die natürliche menschliche Sprache zu verstehen, deren Wörter und Kontext zu analysieren, diese Informationen schnell zu verarbeiten und so präzise Antworten auf Fragen in natürlicher Sprache auszugeben. Das System bildet den Beginn einer neuen Entwicklungsrichtung, deren Ziel es ist, lernende Computersysteme für unterschiedlichste Bereiche zu konzipieren. Diese Computer können selbstständig Informationen aus Daten gewinnen und Schlüsse daraus ziehen.
Quelle: IBM