Die deutsche Versicherungsgruppe Generali würde gern den Lebensstil ihrer Kunden überwachen – eine gefährliche Idee.
Von Rainer Sigl
Wir leben im Zeitalter der absoluten Effizienz. Wir teilen unseren Arbeitstag nach Zehnminuten-Einheiten, optimieren unsere Workflows, buchen aus der Cloud exakt die Leistung, die wir tatsächlich verwenden, und haben auch im Park oder beim abendlichen Ausgehen immer einen Blick auf unsere Arbeits-Emails. Und längst sind wir auch abseits der Arbeitswelt der Selbstoptimierung verfallen: Wir zählen Kalorien, trainieren hocheffizient am Ergometer, führen per Fitness-Armband samt App genau Buch über unsere Workouts, streben das optimale Körpergewicht, den erholsamsten Wach-Schlaf-Zyklus und die für unser Alter ausgewogenste Multivitaminversorgung an. In einer Gesellschaft, die vonseiten der Politik und vieler Firmen immer mehr überwacht wird, sind wir selbst unsere ultimativen Überwacher geworden – und auf Facebook teilen wir die Ergebnisse der Welt mit. Bei so viel Transparenz ist es nur logisch, dass die Hemmschwellen fallen. Als die deutsche Generali-Versicherungsgruppe letztes Jahr ein neues »verhaltensbasiertes« Vertragsmodell vorstellte, war die Aufregung dennoch groß: Per Handy-App sollten sich die Versicherten in diesem Modell freiwillig vom Versicherer überwachen lassen. Für besonders gesunde Lebensführung – regelmäßige Bewegung, gesunde Ernährung und Lebensstil – werden die Versicherten mit Rabatten auf die Versicherungsbeiträge belohnt. Wer demnach nachweislich »gesund« lebt und dies per App überprüfen lässt und seinem Versicherer schickt, zahlt weniger Versicherung.
Hypereffizienz als Krankheit
Schon bei der Ankündigung gab es empörten Widerspruch von Datenschützern, doch das Unbehagen an diesem Modell reicht über bloße Bedenken, wie mit diesen Lebensprotokollen umgegangen wird, hinaus. Der Leistungsdruck, der sich längst von der der hypereffizienten Arbeitswelt ins Private fortsetzt und als gern totgeschwiegenen Nebeneffekt physische und psychische Erkrankungen sowie Burnout-Fälle in Millionenzahl mit sich bringt, wird durch »Innovationen« wie diese langfristig zum Urteilsinstrument über die ganze Bevölkerung. Auch wenn zuerst nur jene Mitglieder der »Hochleistungsgesellschaft« freiwillig an diesen Modellen teilnehmen, die auch sonst stolz ihre Fitness präsentieren, wird sich diese Freiwilligkeit bei größerer Verbreitung umkehren. Man muss kein Pessimist sein, um zu sehen, dass sich das Anreizsystem - wer nachweislich und überwacht »fit« ist, zahlt weniger – im Handumdrehen zu einem Bestrafungssystem wandelt: Wer an der »freiwilligen« Überwachung nicht teilnehmen will, wird letztlich durch höhere Versicherungsbeiträge sanktioniert – egal, ob er gesund lebt oder nicht. Es ist die fatale Logik des »Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten«, die auch von der Politik immer wieder zur Verschärfung der Überwachung und zur kontinuierlichen Beschneidung der Bürgerrechte zum Einsatz kommt. »Nicht nur risiko-, sondern chancenorientiert« solle die Diskussion geführt werden, heißt es vonseiten des deutschen Konzerns – und wie meist, wenn von »Chancen« gesprochen wird, bleibt unausgesprochen, dass diese eben nicht von allen ergriffen werden können und dass sie stets anstelle ehemaliger Sicherheiten treten. Anfang 2016 will der Versicherer trotz Protesten mit dem neuen Modell auf den Markt kommen; nur in Deutschland, denn das österreichische Gesetz verbietet die Festlegung individueller Prämien in der Krankenversicherung. Es ist ein weiterer Schritt hin zum gläsernen Menschen, der von einer sich ständig vergrößernden Protokollwolke definiert wird, die bis ins Kleinste auf ihn zurückwirkt.