In China und Venezuela sind dystopische Überwachungsszenarien in Form von »Citizen Scoring« Realität. Kommt auch in Europa der vollüberwachte Mensch?
Chinas derzeit noch freiwilliges Bürgerüberwachungsprogramm wird schon bald Pflicht: Jeder der 1,4 Milliarden Bewohner der Volksrepublik soll bekanntlich bis 2020 ein öffentlich einsehbares »Social Credit Rating« verpasst bekommen, das sich aus der Analyse verschiedenster Parameter zusammensetzt und einerseits die Kreditwürdigkeit, aber vor allem auch die politische und soziale Reputation des jeweiligen Bürgers beschreibt. Der »Score« jedes Bürgers errechnet sich unter anderem aus der gewaltigen Datenmenge, die die Bürger im – vom Staat streng kontrollierten – Internet mit jeder Aktion generieren. Fehlverhalten soll bestraft und an den Pranger gestellt, gesetzes- und regimetreues Verhalten hingegen belohnt werden. Der gläserne Chinese der nahen Zukunft wird nicht nur von flächendeckenden Kameras, sondern auch durch lückenlose Verknüpfung verschiedenster Datenbanken zum sowohl off- wie auch online völlig kontrollierbaren Subjekt.
Im krisengeschüttelten Venezuela, das seit Jahren zwischen Gesellschaftskollaps und Bürgerkrieg dahinkollabiert, ist man schon einen Schritt weiter: Die von einer chinesischen Firma entwickelte und bereits 2016 dort eingeführte »Vaterlandskarte« trackt schon jetzt die Bürgerinnen und Bürger des südamerikanischen Staates. Gesellschaftliches, politisches und wirtschaftliches Verhalten werden ebenso von ihr gespeichert wie der Bezug staatlicher Leistungen wie Sozialhilfe oder die Versorgung mit Medikamenten. Die Bürgerkarte ist nicht nur für den Amtsverkehr und Wahlen wichtig, sondern erlaubt auch den Bezug staatlich subventionierten Treibstoffs – so ist der Besitz der »Vaterlandskarte« zwar noch nicht gesetzlich verpflichtend, doch wer sich dagegen entscheidet, hat mit handfesten Nachteilen zu rechnen. Auch in Chile und Guatemala liebäugeln die Regierungen mit der Einführung ähnlicher »Bürgerkarten«, die die bequeme elektronische Verwaltung mit weitreichenden staatlichen Überwachungsmöglichkeiten verknüpfen.
Effizienz bedroht Demokratie
Sowohl der neue Global Player China als auch der »failed state« Venezuela zählen gemeinhin nicht zu den angepeilten Vorbildern europäischer oder westlicher Demokratien, doch die Überwachungsmöglichkeiten, die in diesen beispiellos riesigen Feldversuchen am lebenden Objekt getestet werden, stoßen auch hierzulande auf Interesse. Die elektronische Administration staatlicher Leistungen, aber auch die Sammlung immer größerer Informationsmengen locken mit potenziellen Einsparmöglichkeiten und größerer Bequemlichkeit auch für die Bürger; andererseits drängen gerade auch rechtspopulistische Law-and-Order-Politiker unter dem Vorwand der Terrorgefahr auf die so beispiellos bequem verknüpfbaren Informationsmengen.
Es ist fatal, dass mit dem Verweis auf die erzielbaren Einsparungen und größere Verwaltungseffizienz leichtfertig eine Erosion der Privatsphäre argumentiert wird. Ja, der gläserne Bürger ist günstiger zu administrieren – aber es ist mehr als kurzsichtig und demokratiepolitisch suizidal, im Namen der Effizienz totalitäre Überwachung und alle damit verbundenen Missbrauchsmöglichkeiten zu forcieren. Der Preis für diese Art der Effizienz ist höher, als man glaubt.