Gerd Hesina ist neuer Geschäftsführer des Forschungszentrums VRVis. Das Credo der Wissenschaftler: Sichtweisen auf Daten zu schaffen und Perspektiven für die Wirklichkeit zu entwickeln.
Report: Ende letzten Jahres wurde dem VRVis eine neue Förderungsperiode im COMET-Programm zugestanden, was als Erfolg der bisherigen Arbeit gewertet werden kann. Was sind Ihre Schwerpunkte?
Gerd Hesina: Wir fokussieren auf vier große Themengebiete: Visuelle Analyse, komplexe Systeme, »Smart Worlds« sowie Virtual- und Augmented Reality. Komplexe Systeme finden wir im medizinischen Bereich vor – etwa bei der Analyse von Bilddaten und Visualisierung von Fliegengehirnen. Es ist ein typisches Beispiel für bildgebende Verfahren, in denen Daten nach bestimmten Gesichtspunkten identifiziert und mithilfe von Algorithmen kategorisiert werden. Ein moderner Ansatz, hier Herausforderungen mit Machine Learning zu bewältigen, ist Deep Learning.
Im Bereich Smart Worlds – ein Begriff daraus ist die Smart City – arbeiten wir an einem digitalen Abbild der Wirklichkeit von Systemen und Umgebungen. Ausgehend von einem »Digital Twin« können Szenarien und Objekte dargestellt und erprobt werden, die es eigentlich noch nicht gibt. Auf dieser Basis können dann Entscheidungen getroffen werden, welche die wirkliche Welt beeinflussen. Und so beginnt sich das Rad zu drehen, die beiden Welten greifen ineinander. Querverbindungen zu Sensoren und unterschiedlichen Messsystemen liefern Daten mit auch direkten Auswirkungen auf diese »Alternate Reality«.
Dann gibt es Themen, die wir in der klassischen Virtual und Augmented Reality betrachten. Oft unterstützt dieser Bereich etwa mit einer VR-Testumgebung die drei anderen Schwerpunkte. Man probiert etwas in der virtuellen Realität aus und prüft es auf Auswirkungen auf die reale Welt – noch bevor ich es wirklich in der Praxis nutze.
Report: In diesen Bereich fallen typische Industrielösungen, etwa Unterstützung für Wartungsarbeiten in der Fabrik?
Hesina: Ja, und Virtual Reality ist damit wieder in aller Munde. Man darf nicht vergessen, dass die Idee von Virtual Reality nicht neu ist. VRVis wurde 2000 gegründet, damals war VR groß im Kommen, das Interesse ist aber in den Jahren darauf wieder abgeflaut. Dass das Thema wieder groß da ist, hat natürlich vor allem technische Gründe. Die höhere Computing-Power ermöglicht wesentlich bessere Bildqualität und die Produkte sind nutzerfreundlicher. Bedanken können wir uns bei der Spieleindustrie, die VR-Werkzeuge geschaffen hat, die überall verwendet werden können. Heute kann man auch ohne tiefgehendes Technikwissen VR-Content erzeugen, die Technologie ist massenmarktfähig geworden. Die ersten Konzepte und Brillen gab es überhaupt in den Sechzigerjahren. Die Technik basierte auf Kathodenstrahlröhren, und war von einer einfachen Nutzbarkeit noch weit entfernt.
Report: Springen denn Unternehmen bereits auf die Möglichkeiten von VR und AR auf? Bislang kennt man bestenfalls Pilotprojekte.
Hesina: Wir würden uns natürlich wünschen, wenn die Industrie hier noch etwas stärker aufspringen würde. Wir haben aktuell einige Projekte, es könnten aber noch durchaus mehr sein. Ein Beispiel für eine VR-Anwendung in der Praxis liefert Thyssen-Krupp, das mehr als 20.000 Wartungstechniker mit HoloLenses ausstattet. Die Industrie hat also offensichtlich Bedarf.
Unser Beitrag ist allerdings klar die Arbeit an Prototypen und Piloten. Wir konzentrieren uns auf die Bewältigung eines Problems, das man möglichweise mit einer VR/AR-Anwendung besser als mit herkömmlichen Methoden lösen kann.
Report: Was kann man sich darunter vorstellen? Wie kann eine VR/AR-Lösung besser helfen?
Hesina: Wartungsarbeiten, bei denen ein Servicetechniker zugeschaltet wird, der in ein Display integriert Anleitungen gibt und Informationen einspielt, sind ein typisches Beispiel. Weitere wären eine interaktive Bedienungsanleitung oder Laientrainings – etwa für den Umgang mit einem Feuerlöscher zuhause. In der virtuellen Welt kann alles simuliert und trainiert werden. Auch von vielleicht in ihrer Mobilität eingeschränkten Menschen, für die eine Planung eines barrierefreien Weges wichtig ist. Wo gibt es Aufzüge? Wie ist ein Weg in der U-Bahn-Station zu nehmen? Das alles kann man in der virtuellen Realität üben.
Report: Welches Potenzial sehen Sie bei herkömmlichen Visualisierungslösungen?
Hesina: Wir bringen uns überall dort ein, wo viele Daten anfallen. Hier geht es nicht um herkömmliche Business-Intelligence-Lösungen, sondern um die visuelle Analyse von großen Datenmengen. Das beginnt auf der Ebene, die Daten überhaupt einmal sichten zu können, und beinhaltet auch Plausibilitätsprüfungen, weil man sich einen Datensatz vielleicht noch nie im Ganzen angesehen hat und bislang auch keine Tools dafür hatte. Hier hat das VRVis schon einigen Unternehmen helfen können, Daten zu sehen und damit auch zu verstehen. Man sieht Fehler, Häufungen, vielleicht Clusterbildungen – mit unserer Technologie ist dies auch in einem Live-Betrieb möglich.
Bei der Suche nach der Nadel im Heuhaufen ist mitunter zu Beginn noch gar nicht klar, was die Nadel eigentlich ist. Der Mensch ist hervorragend in der Lage, ungewöhnliche Bildmuster zu erkennen. Er kann so auch auf völlig neue Dinge schließen, die noch in kein Schema passen.
Report: Bitte wieder um ein Beispiel …
Hesina: Wir beschäftigen uns mit Simulationen im Automotive-Bereich, um letztlich gute Ergebnisse für die Motorenentwicklung zu bekommen. Hier gibt es, ohne zu übertreiben, hundert verschiedene Parameter, die beachtet werden müssen. Wenn an einer Stelle geschraubt wird, verändert sich das gesamte System – das ist eigentlich kaum erfassbar. Mit der visuellen Analyse wird das möglich.
Ein anderes Projekt mit einem Internet-Service-Provider betrifft IT-Security. Die visuell unterstütze Analyse des Datenverkehrs ermöglicht einen schnelleren und besseren Überblick über Anomalien. Auch Nicht-Techniker sehen so den Anstieg von Port-Scans oder ungewöhnlichen Traffic.
In einem weiteren Projekt simulieren wir gemeinsam mit Zumtobel Lichtdesigns in Räumen. Beleuchtungsszenarien werden physikalisch korrekt dargestellt und können dynamisch in hochaufgelöster Darstellung verändert werden.
Report: Was war Ihr Lieblingsprojekt in den vergangenen Jahren?
Hesina: Eine interessante Zusammenarbeit, in der ich vor meiner Zeit als VRVis-Geschäftsführer mitgewirkt hatte, war eine Marsoberflächen-Simulierung. Die Raumfahrtorganisationen ESA und NASA suchten geeignete Plätze für eine Rover-Landung einer unbemannten Mars-Expedition im Jahr 2020. Unser Beitrag war, eines der Tools für die Prüfung von Landing-Sites zu liefern. Dabei wurden gemeinsam mit dem Joanneum Research Satellitendaten und hochgenaue Daten von Fahrzeugen, die bereits auf dem Mars sind, zu einer 3D-Rekonstruktion verarbeitet. Auch für Geologen war diese Arbeit sehr wichtig, es wurden auf Basis der Visualisierungen auch spezielle Werkzeuge für den Rover für die Boden- und Gesteinsanalyse angefertigt. In diesem Projekt hatten wir es tatsächlich mit einer anderen Welt zu tun.
Massendaten statt diskrete Punktmessung
In Einigen Bereichen der Vermessung geht der Trend in Richtung Erfassung von Massendaten. In einer Arbeit mit rmDATA wurden Laser-Scan-Daten, photogrammetrische Daten (blau) und tachymetrische Messpunkte (dunkelgrün) in einem gemeinsamen Koordinatensystem dargestellt. Interaktives Editieren und Säubern stellt selbst bei Datensätzen mit mehreren hunderten Millionen Punkten kein Problem dar.
Simulation und Visualisierung
Was passiert in der Stadt Köln, wenn der Rhein bei Hochwasser auch über die mobilen Schutzwände tritt? Mit Unterstützung der TU-Wien wurde für die Stadtentwässerungsbetriebe Köln ein Prototyp zur Entscheidungshilfe für die Flut und Regenwasserbewirtschaftung umgesetzt. Ziel ist es, Schutzmaßnahmen besser planen zu können. Die Gebäudefarben geben den zu erwartenden Schaden an.
Rekonstruktion und Analyse von Oberflächen
Ein Tunnel, visualisiert als Punktwolke: In einem Projekt mit den Messtechnikspezialisten Dibit und Linsinger ZT werden Oberflächen von Gebäuden und Infrastruktur hochpräzise vermessen und digitale Abbilder generiert. Diese lassen auch kleinste Schäden und Veränderungen über einen größeren Zeitraum erkennen. Einsatzgebiet für diese 4D-Modelle sind weiters Ausgrabungsstätten.