Sonntag, Dezember 22, 2024

»Für Österreich« nennt sich das 35-seitige Arbeitsprogramm, auf das sich SPÖ und ÖVP nach zähem Ringen einigen konnten. Neuwahlen sind vorerst vom Tisch, nun will die Koalition ein allerletztes Mal durchstarten. Doch was ist von diesem Kompromiss zu halten? Report(+)PLUS hat drei ExpertInnen nach ihrer Einschätzung gefragt.

1.Welche Themen muss die Regierung jetzt rasch angehen?

Margit Schratzenstaller, Stellvertretende Leiterin des Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo)

Die Regierung greift durchaus Einzelthemen auf, die derzeit als dringend wahrgenommen werden. Etwa die kalte Progression, die schwachen Unternehmensinvestitionen, die hohen Lohnnebenkosten oder die steigenden Arbeitslosenzahlen vor allem bei Älteren – um einige zu nennen. Hier ist es gut, wenn Schritte gesetzt werden. Aus wissenschaftlicher Sicht wichtig: Die Regierung sollte der Fachwelt die konkreten Zahlen und Berechnungen zugänglich machen, die den geplanten Maßnahmen zugrunde liegen. Nur so können die wirtschaftlichen Auswirkungen seriös überprüft werden.

Josef Kalina, Geschäftsführer der Agentur Unique Public Relations GmbH



Den erfolgversprechendsten Ansatz des neuen Programms sehe ich in der deutlichen Reduktion der Lohnnebenkosten für zusätzlich neu geschaffene Arbeitsplätze. Ich rechne damit, dass das eine merkbar positive Wirkung auf den Arbeitsmarkt haben wird. Auch der Ansatz des Bundeskanzlers, zu einer für Österreich vorteilhafteren Reglung bei der sogenannten Entsendung von Arbeitskräften aus unseren östlichen Nachbarstaaten zu gelangen, ist wichtig. Nicht weniger wichtig ist eine geschlossene Haltung in Fragen der Zuwanderung und der Integration. Das Paket der Regierung ist schlüssig und muss umgesetzt werden. Was schmerzlich fehlt, ist die reale Rückführung von Menschen, die von den Asylbehörden rechtskräftig abgelehnt wurden, in ihre Heimatländer.

Heidi Glück, Geschäftsführerin der Strategieberatung media + public affairs consulting GmbH

Österreich hat einigen Aufholbedarf in den Bereichen Konjunkturbelebung, Anreize für Wachstum und Beschäftigung, Bildung und Forschung, leistbares Wohnen. Dazu gibt es Vorschläge im Arbeitsprogramm der Bundesregierung, wenn auch keine besonders großen Schritte. Positiv zu vermerken ist, dass es klare zeitliche Vorgaben gibt, bis wann beschlussfähige Vorschläge im Ministerrat vorliegen müssen. Das lässt auf eine aktivere und sichtbarere Regierungspolitik als in den letzten Monaten hoffen.


2.Welche Punkte vermissen Sie im Arbeitsprogramm?

Margit Schratzenstaller



Nicht angesprochen wird jene umfassende Reform des Abgabensystems, die Österreich dringend benötigt. Nur so werden wir für die Herausforderungen der Zukunft – von der Energiewende über die demografische Entwicklung bis zur Digitalisierung – gerüstet sein. Derzeit ist etwa die hohe Abgabenquote ein Nachteil für den Standort, die starke Belastung des Faktors Arbeit ist wachstums- und beschäftigungsfeindlich. Umweltsteuern, Grund- oder Erbschaftssteuer hingegen werden nicht oder unterdurchschnittlich genutzt. Um all das zu ändern, braucht es ein Gesamtkonzept.

Josef Kalina

Am schmerzlichsten vermisse ich eine Zurückdrängung des überbordenden österreichischen Fö(r)deralismus. Ob in der Bildung, beim Wohnbau, der Sicherheit, der Gesundheit: Überall braten die neun Länder eine Extrawurst. Doppelstrukturen verschlingen unnötig Geld, politischer Machtkampf lähmt das Land. Wenn es nicht gelingt, beim Staat – gemeint sind Bund, Länder, Gemeinden, Sozialversicherungen etc. – zu sparen, wird eine spürbare Senkung der Steuerlast nicht umsetzbar sein.

Heidi Glück

Die wirklich großen Themen hat die Regierung in ihrem neuen Arbeitsprogramm nicht einmal gestreift: finanzielle Absicherung der Pflegekosten, Pensionsharmonisierung, Gesundheitsreformen, Reduktion der Verwaltungsebenen und so manch anderes. Zugegeben: Diese Fragen beantwortet man üblicherweise nicht am Ende, sondern am Beginn einer Legislaturperiode und sie verlangen eine gründliche Vorbereitung. In diesen Themenfeldern gibt es bei den Koalitionsparteien auch die wenigsten Erfolgsaussichten auf Kompromisse.


3.Wird die Einigung 18 Monate halten?

Margit Schratzenstaller

Das ist eine politische Frage – und keine, die eine Ökonomin beantworten kann. Ob die Einigung hält, wird vom politischen Gestaltungswillen der Regierungspartner abhängen. Klar ist aber: Bis zum voraussichtlichen Wahltermin ist zwar nicht mehr ausreichend Zeit, um die ganz großen Reformen umzusetzen – die ersten wichtigen Pflöcke könnten aber eingeschlagen werden. Zumindest diese Chance sollte die Regierung nicht ungenutzt verstreichen lassen.

Josef Kalina

Ich hoffe sehr, rechne aber mit einer erhöhten Neuwahl-Wahrscheinlichkeit im Herbst 2017.

Heidi Glück

Da in der zweiten Jahreshälfte 2018 Österreich die EU-Präsidentschaft übernimmt und die Brexitverhandlungen genau in die Wahlkampfzeit fallen würden, wäre das wohl kein guter Zeitpunkt für einen Wahltermin. Außerdem wird im Frühjahr 2018 in vier Bundesländern gewählt. Diese haben alle großes Interesse, den zeitlichen Abstand zwischen Bundeswahl und Landtagswahl möglichst groß zu halten. Und sowohl in ÖVP als auch SPÖ haben die Vorbereitungen für den Tag X längst begonnen. Den Spätherbst 2017 als Wahltermin halte ich für wahrscheinlicher.

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