Prof. Michael Weinhold, CTO Energy Management bei Siemens, über die Aussichten für Übertragungsnetze und erwartete Veränderungen im Energiemix Europas.
Report: Deutschland hat sich ambitionierte Ziele mit dem Ausbau von Windkraft und Photovoltaik gesetzt. Wie ist die Situation aus Sicht der Netzbetreiber?
Michael Weinhold: In Deutschland sind heute rund 40 Gigawatt Windkraft installiert, in Kombination mit Photovoltaik sind es sogar 80 GW. An einem sonnigen Tag werden von landesweit mehr als 1,5 Mio. PV-Anlagen bis zu 15 GW erzeugt. Nicht nur Hausbesitzer investieren in die Stromerzeugung, auch Kooperativen tun sich für den Betrieb zusammen. All diese neuen Betreiberformen sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten entstanden – für die Netzbetreiber ist dies ein sehr kurzer Zeitraum.
Das deutsche Stromnetz muss täglich Strom zwischen 35 GW und 80 GW Leistung transportieren. An manchen Tagen werden mehr als 60 % des benötigten Stroms bereits von den Erneuerbaren in das Netz gespeist. An windarmen, nebeligen Wintertagen wiederum kommt es mitunter zu gar keiner Einspeisung durch Windkraft und PV. Diese extreme Bandbreite ist der Grund, warum wir auch weiterhin auf konventionelle Erzeugung setzen müssen.
Report: Welche Erwartungen haben Sie zum künftigen Energiemix in Europa?
Weinhold: Der Energiemarkt ist so stark reguliert, dass letztlich politische Entscheidungen über den Erfolg oder Misserfolg von bestimmten Erzeugungsarten entscheiden. Nach dem heutigen Stand der Regulierungen in Europa können wir prognostizieren, dass der Anteil von Solarkraft an der gesamten Stromerzeugung in den EU-28-Ländern von heute 9 % auf rund 22 % im Jahr 2030 steigen wird. Windkraft wird in diesem Zeitraum voraussichtlich von 12 % auf 21% wachsen, Wasserkraft von 3 % auf 12 %. Die Anteile Atomenergie (12 %) und Fossile (50 %) werden in der Stromerzeugung auf 9 % und 33 % sinken.
Insgesamt wird die Energieerzeugung in Europa bis 2030 jährlich weiterhin um
1,4 % wachsen.
Report: Was bedeutet das für die Übertragungsnetze?
Weinhold: Wir werden weiterhin gut ausgebaute Übertragungsnetze brauchen. Sie verbinden wie ein Kleber alle Komponenten des Marktes zu einem funktionierenden Ganzen. Gegenstand der Forschung und Entwicklung bei Siemens sind auch die Netzarchitekturen. Die Leitzentralen der Netzbetreiber werden künftig noch öfter und noch schneller auf Schwankungen regieren müssen. Zudem wird Europa auch auf Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung (HVDC) setzen müssen, um Energie weitgehend verlustfrei über weite Distanzen zu den Verbraucherzentren zu transportieren. Siemens hat erst vor wenigen Wochen dazu ein Pilotprojekt zum Thema Dynamic Grid Control gemeinsam mit der Universität Magdeburg und weiteren Partnern, darunter alle großen Verteilnetzbetreiber, gestartet.
Report: Wie stehen die Chancen, dass tatsächlich HVDC-Stränge in Europa gebaut werden? Ist wie bei so vielen Großprojekten nicht auch hier mit Widerstand zu rechnen?
Weinhold: Nun, zwischen Norwegen und Deutschland ist bereits eine HVDC-Leitung in Betrieb, an einer zweiten wird aktuell gebaut. Wir erwarten, dass in den kommenden Jahren weitere hinzukommen und auch akzeptiert werden. Wenn man eine Sichtweise über Gesamteuropa einnimmt, sind neue Übertragungsnetze gegenüber dem Bau von großen Kraftwerken wesentlich kosteneffizienter. Nur so werden wir die großen Strommengen der Erneuerbaren sinnvoll zu den Verbrauchern in ganz Europa verteilen können. Wir werden beides brauchen – Erzeugung und ein starkes europäisches Netz. Möglicherweise wird ein künftiges Supergrid auch über Europa hinaus gebaut werden. Wir Ingenieure träumen von ja einem transasiatischen Backbone, der mit einem mediterranen Verteilnetzring verbunden ist. Die Technologien sind jedenfalls alle da.
Für mich als Energietechniker herrscht eine fantastische Zeit. Nicht nur, dass Elektrotechnik heute in allen Bereichen zu finden ist und auch im Verkehr und in den Gebäuden eine zunehmend wichtige Rolle spielt. Auch Netzbetreiber und Erzeugungsunternehmen sind gefordert, ihr Geschäftsmodell zu prüfen und zu verändern. Und die Industrie kann im Bereich Energieeffizienz noch einiges bewegen.