Sonntag, Juli 21, 2024

Gilbert Rukschcio ist Unternehmensberater mit Tätigkeitsschwerpunkt in Brüssel. Im Interview mit Report(+)PLUS spricht der geschäftsführende Gesellschafter von pantarhei Europe über Fehler in der europäischen Flüchtlingspolitik, das Problem der Better Regulation und darüber, wie sich die Arbeit des Lobbyisten verändert hat.

 

(+) plus: Das aktuelle Flüchtlingsdrama stellt die EU vor große Herausforderungen, die sie scheinbar nicht bewältigen kann, vor allem nicht gemeinsam bewältigen kann. Was läuft aus Ihrer Sicht schief?

Gilbert Rukschcio: Man sieht an diesem Beispiel, dass es »die EU« nicht gibt, sondern nur einen Zusammenschluss von 28 Nationalstaaten mit einer übergeordneten Ebene aus Kommission und Parlament. Da gibt es natürlich viele verschiedene Interessen und Positionen. Und gerade beim Thema Flüchtlinge und Asylwerber ist es offensichtlich, dass noch kein gemeinsamer Nenner gefunden wurde.Das zweite Problem ist aus meiner Sicht, dass man viel zu lange die Augen vor der sich zuspitzenden Lage an der Peripherie der EU verschlossen hat. Das Scheitern des arabischen Frühlings hat die Region nicht nur destabilisiert sondern de facto zu einem Pulverfass gemacht. Und diese Auswirkungen bekommen wir jetzt zu spüren.

(+) plus: Wenn es »die EU« nicht gibt, ist das dann nicht schon Eingeständnis, dass die Politik in einer ganz wesentlichen Sache versagt hat, nämlich genau diesen Gemeinsamkeits- und Solidaritätsgedanken zu schaffen und stärken?

Rukschcio: Historisch betrachtet ist die EU nichts anderes als eine Umkehrung von Clausewitz, der im Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sah. Es ging darum, die Konflikte, die es nun einmal gab, zu kanalisieren und den Frieden als Dauerzustand in Europa zu etablieren. In dieser Hinsicht ist die EU ein absolutes Erfolgsmodell. Aber ob die EU mittelfristig ein Bundesstaat oder ein Staatenbund wird, ist schwer einzuschätzen, weil die Positionen der einzelnen Mitglieder in dieser Frage sehr unterschiedlich sind. Deshalb sehen wir auch aktuell diesen Stillstand und die fehlende Richtungsentscheidung, welche Art der Union wir eigentlich wollen.

(+) plus: Wer ist für diesen Stillstand verantwortlich?

Rukschico: In der Vergangenheit war das deutsch-französische Tandem der wichtigste Integrationsmotor für mehr Europa. Dieses Vehikel läuft nicht mehr so wie in der Vergangenheit. Aber man muss auch die Frage stellen, ob dieses Tandem überhaupt noch das richtige Integrationsvehikel wäre, denn Europa hat sich auch verändert, ist von zwölf auf 28 Staaten angewachsen. Diese neuen Mitglieder wollen natürlich auch mitreden.

(+) plus: Ist die EU zu schnell gewachsen?

Rukschcio: Das Problem ist, dass das Regelwerk nicht an die durch die wachsende Größe der Union neuen Herausforderungen angepasst wurde.

(+) plus: Das klingt nach noch mehr Bürokratie.

Rukschcio: Nicht unbedingt. Der Vizepräsident der Europäischen Kommission, Frans Timmermans, hat bereits angekündigt, die Bürokratie einzudämmen. Bislang herrschte der Geist vor »Ich reguliere, also bin ich«. Jetzt sollen die Gesetzesinitiativen seitens der Kommission radikal reduziert werden. Ich bezweifle aber, dass das funktionieren wird. Denn letztlich zeigt sich hier nur der vorauseilende Gehorsam gegenüber den EU-Skeptikern. So wird man die Skeptiker aber auch nicht überzeugen können. Natürlich muss man die Sinnhaftigkeit jeder Regulierung hinterfragen. Aber »Better Regulation« ist auf europäischer Ebene ein ähnliches Schlagwort wie in Österreich die »Verwaltungsreform«. Das ist eine neverending story.

(+) plus: Wie kann man EU-Bürgern erklären, dass Länder wie UK keine oder nur wenige Flüchtlinge aufnehmen? Ist die wachsende Unzufriedenheit  nicht naheliegend?

Rukschcio: Ein Kernwert der Union ist Solidarität. Der wird zwar im Moment sehr strapaziert, kann aber natürlich in unterschiedlichen Ausprägungen gelebt werden. Es wäre natürlich solidarisch, wenn jedes Land eine gewisse Anzahl Asylwerber aufnehmen würde, es kann aber auch solidarisch sein, bestimmte Mittel zur Verfügung zu stellen. Das sind ja Menschen und keine Inventarstücke, die man von einer Halle in die andere verschieben kann. Gerade Großbritannien hat viel Geld auch vor Ort inves­tiert, um einer Flüchtlingswelle Richtung Europa vorzubeugen.

(+) plus: Was kann die EU gegen das Erstarken der nationalistischen Strömungen in vielen Mitgliedsländern unternehmen? Wie gefährdet ist das Konstrukt EU?

Rukschcio: Die Europäische Union ist kein Naturzustand sondern vom Menschen geschaffen. Und alles, was der Mensch geschaffen hat, kann er auch wieder zerstören. Natürlich kann es sein, dass die EU irgendwann aufhört zu existieren oder bewusst abgeschafft wird. Die nächsten Monate werden für die Zukunft der EU sehr wichtig sein. Schengen und die Freizügigkeit dürfen nicht dauerhaft unterminiert werden. Wenn wir daran zu zweifeln beginnen, zweifeln wir auch ganz schnell an der EU als Ganzes.

(+) plus: Gerade jetzt ist das Thema Zäune und Grenzkontrollen aber wieder hochaktuell.

Rukschcio: Die wichtigste Herausforderung ist, die Zäune und Grenzen in den Köpfen der Bevölkerung abzubauen. Wenn es diese Zäune und Grenzen in den Köpfen nicht gibt, dann will man sie auch nicht um sein Land bauen. Das Problem in vielen Ländern ist, dass die Bevölkerung der Politik die Problemlösungkompetenz nicht mehr zutraut und deshalb offen für populistische Strömungen von links oder rechts ist. Wir leben gerade in Westeuropa immer noch im Gedanken der prosperierenden 60er-, 70er- und 80er-Jahre mit konstantem Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung. Aber die Welt hat sich verändert und das schafft Verunsicherung. Dieser Verunsicherung muss die Politik mit Antwort begegnen.

(+) plus: Hat die EU die richtigen Antworten?

Rukschcio: Wenn man die Vorschläge der Kommission in Sachen Wettbewerbsfähigkeit, Struktur- und Arbeitsmarktreformen betrachtet, sieht man schnell, dass die Kommission deutlich offener und weiter die einzelnen Mitgliedstaaten. Aktuell werden nur rund 20 Prozent der Kommissionsvorschläge von den Mitgliedsstaaten auch  umgesetzt. 

(+) plus: Das erinnert an die Bund-Länder-Problematik in Österreich.

Rukschcio: In dieser Hinsicht ist die EU tatsächlich sehr österreichisch. Es ist immer die Frage, welche Ebene die besten politischen Lösungen anbieten kann. Ich glaube aber auch nicht, dass eine absolutistisch-zentralistische Machtverteilung hin zur Kommission alle Probleme der Union lösen würde.

(+) plus: Vom groß angekündigten Jucker-Investitionsprogramm ist nicht viel zu spüren. Europa steckt immer noch in der Krise. Warum greift das Paket nicht?

Rukschcio: Die Frage ist, welche Projekte schlussendlich ausgewählt werden und ob sie dann auch so realisiert werden. Das Programm lebt stark von der Hebelwirkung. Deshalb wird es wichtig sein, Projekte auszuwählen, die vom Kapitalmarkt als attraktiv erachtet werden.

(+) plus: Ist es nicht höchst an der Zeit, dass endlich auch die Umsetzung beginnt?

Rukschcio: Wenn man sich aktuelle Wirtschaftsdaten ansieht, dann muss man sagen, dass die Umsetzung schon vor drei Jahren hätte beginnen müssen. Manche Mühlen mahlen aber offensichtlich sehr langsam. Das Investitionsprogramm wir aber sicher nicht die eine richtige Antwort auf die aktuellen wirtschaftspolitischen Fragen sein.

(+) plus: Wie würden Sie aktuell die Stimmung in Brüssel beschreiben?

Rukschcio: Es herrscht das ganz normale Chaos (lacht). Aber man spürt schon eine höhere Erwartung an die Kommission, gerade in schwierigen Zeiten eine politische Institution zu sein und nicht einfach nur den Mitgliedsstaaten nach dem Mund zu reden. Man erwartet große Entscheidungen und die sind auch nötig. Daran wird sich Juncker messen lassen müssen.

(+) plus: Hat sich die Arbeit des Lobbyisten verändert? Ist es angesichts der großen Probleme schwieriger, mit vermeintlich kleineren Themen Gehör zu finden?

Rukschcio: Nein, den Eindruck habe ich nicht. Die Bereitschaft, mit Stakeholdern zu reden, ist nach wie vor gegeben. Die Politik ist aber schon sehr sensibilisiert, ob jemand ein Phrasendrescher ist oder tatsächlich wertvolle Informationen liefern kann. Was sich allerdings stark geändert hat, ist die Arbeitsweise der Kommission. Durch die neue Struktur mit Vizepräsidenten und Themencluster wird aktuell versucht, sich rein auf die großen Themen zu konzentrieren. Da ist es jetzt schon deutlich schwieriger, mit anderen Themen gehört zu werden. Man kann doch nicht im Sinne von »Better Regulation« diese oder jene Richtlinie links liegen lassen. Da gibt es Anpassungs- und Reformbedarf, der nicht zu unterschätzen ist. Ich glaube auch nicht, dass es der Wirtschaft und dem Arbeitsmarkt in Europa hilft, wenn man sich nur noch auf die großen Dinge konzentriert.

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