Seit Jänner 2013 sind Unternehmen verpflichtet, die psychischen Belastungen ihrer Mitarbeiter am Arbeitsplatz zu evaluieren. Vor allem kleinere und mittlere Betriebe waren bisher säumig.
Von Angela Heissenberger
Arbeitsbedingte Beschwerden und Erkrankungen sind nicht nur für die Betroffenen belastend. Darüber hinaus verursachen sie auch nicht unwesentliche wirtschaftliche Kosten – für die Unternehmen und im Gesundheitswesen. Seit vor rund zweieinhalb Jahren die Novelle zum Arbeitnehmerschutzgesetz in Kraft trat, müssen alle bestehenden Arbeitsplätze in heimischen Betrieben nicht nur auf körperliche, sondern ausdrücklich auch auf psychische Belastungen hin evaluiert werden. Kleinstbetriebe sind davon nicht ausgenommen, die Evaluierung ist bereits ab einem Mitarbeiter durchzuführen. Obwohl die Durchführung vom Arbeitsinspektorat kontrolliert und bei Ignorieren mit Strafen bis zu 16.000 Euro geahndet wird, kamen bisher nur wenige Unternehmen ihrer Verpflichtung nach. In einer Onlinebefragung erhob das Institut zur Evaluierung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz (IEPB) im Jänner 2015 den Status quo – das Ergebnis war ernüchternd. Von den 159 befragten Führungskräften und Personalverantwortlichen aus 25 Branchen gaben nur 47 % an, die gesetzlichen Auflagen bereits erfüllt zu haben. Bei Klein- und Mittelbetrieben (bis zu 250 Beschäftigte) ist es gar nur jeder vierte. Mehr als 40 % der Befragten in KMU wussten nicht einmal, dass eine umfassende Arbeitsplatzevaluierung gesetzlich vorgeschrieben ist. Auch in einer OECD-Studie zur psychischen Gesundheit der Arbeitnehmer schneidet Österreich mit Platz 27 unter 32 untersuchten Staaten schlecht ab. »Hier steht dem Gesetzgeber und den Interessenvertretungen noch einiges an Aufklärungsarbeit bevor«, meint IEPB-Leiter Gernot Kampl. Er führt die höhere Beteiligung großer Unternehmen auf den Druck durch Betriebsräte, AUVA und Arbeitsinspektoren zurück. Zudem sei Gesundheitsvorsorge zunehmend ein Wettbewerbsfaktor im Werben um gute Fachkräfte.
Viel Informationsbedarf
Eine ganze Reihe von Arbeitspsychologen haben sich inzwischen auf die Durchführung und Auswertung der Evaluierung spezialisiert. In der Regel erfolgt die Datenerfassung mittels Fragenbogen, online oder in Gruppeninterviews. Erhoben werden Belastungen in vier Bereichen: Arbeitsaufgaben, Organisationsklima, Arbeitsumgebung sowie Arbeitsabläufe. Anhand detaillierter Fragen wird ausgelotet, ob etwa Kommunikationsmängel bestehen, die Zuständigkeiten nicht ausreichend geregelt sind, akustische oder klimatische Einflüsse störend wirken oder sich die Mitarbeiter durch fehlende Qualifikation überlastet fühlen. Dann folgt die Auswertung der Ergebnisse. Hier wird nicht nur deutlich, in welchen Bereichen Aufgaben und Verantwortung unklar sind, sondern auch, wie sich das im Arbeitsalltag bemerkbar macht. »Da geht es darum herauszufinden, was die Ursachen für die Belastungen sind. Wenn es beispielsweise zu laut im Büro ist, muss ich die Lärmquelle suchen – ist es die Klimaanlage, andere Geräusche, die laut telefonierenden Kollegen oder Kollegen, die dauernd durchs Büro durchgehen«, erklärt Birgit Slotta-Bachmayr, Geschäftsführerin von SBS-Consulting. Im nächsten Schritt werden gemeinsam mit den Mitarbeitern konkrete Vorschläge erarbeitet, über die anschließend die Steuergruppe bzw. das Management entscheidet. Die Lösungen können tief in den Aufbau oder Abläufe der Organisation eingreifen sowie die Unternehmenskultur betreffen. Allerdings differiert die Qualität der Umsetzung in den Unternehmen stark. »Die betriebliche Praxis zeigt sehr häufig, dass Unternehmen in der Evaluierung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz eher eine lästige Pflicht als eine sehr gute Chance sehen«, bestätigt Arbeits- und Organisationspsychologe Boris Zalokar. »Nach wie vor gibt es in den Unternehmen viel Informationsbedarf über eine passende und sinnvolle Evaluierungsmethodik, aber auch darüber, wie die Evaluierung als Prozessgeschehen im Vergleich zu einer einmaligen Kurzintervention konzipiert werden kann.« In den Rückmeldungen an das IEPB traten auch erhebliche Informationsdefizite der Mitarbeiter zutage. Oft wurde in den Projekten verabsäumt, der Belegschaft den Sinn der Erhebung transparent zu machen, die Ergebnisse blieben unter Verschluss. Offene Kommunikation sei aber Voraussetzung für positive Veränderungen, so Kampl: »Gute Evaluierungen erkennt man auch daran, wie sie die Beschäftigten in den Prozess einbinden und wie transparent die Ergebnisse unternehmensintern kommuniziert werden.« Auch Beraterin Slotta-Bachmayr ist überzeugt: »Jede Befragung weckt Erwartungen. Je offener Sie kommunizieren, was möglich ist und was nicht, desto höher ist das Engagement und die Zufriedenheit.«
Leistungsbereitschaft fördern
Ist die Evaluierung jedoch gut vorbereitet und konzeptioniert, sind Beteiligungsquoten von 85 bis über 90 % der Mitarbeiter keine Seltenheit. »Ein eindeutiges Signal, dass MitarbeiterInnen sehr hohes Interesse am Thema der betrieblichen Gesundheit haben. Die Erwartungshaltung ist trotz gesetzlicher Verpflichtung oder vielleicht gerade deshalb bei den Mitarbeitern sehr hoch«, meint Zalokar. Hauruck-Aktionen liefern hier meist nicht die sonst möglichen positiven Auswirkungen.« Er sieht in den vier Kernthemen der Evaluierung »das größte betriebliche Entwicklungspotenzial, um die künftigen Herausforderungen der Wirtschaftswelt annehmen zu können sowie die Leistungsbereitschaft und die individuelle Leistungsfähigkeit nachhaltig fördern zu können«. Nach Meinung des Wirtschaftspsychologen Karl Kriechbaum sind es weniger die objektiven Gegebenheiten, die psychische Belastungen und Stress auslösen. Vielmehr liegen die Ursachen im zwischenmenschlichen Bereich: Falsche oder als ungerecht empfundene Beurteilungen, unfreundliche Bemerkungen oder Ignoranz wirken leistungsmindernd und erzeugen sogar Ängste oder Aggressionen. Auch Multitasking mag nur für einzelne Genies ein geeigneter Arbeitsstil sein, für den Großteil der Menschen ist konstruktives, zielgerichtetes Arbeiten dadurch kaum möglich. Kriechbaum hat das aktiv-langsame Arbeiten als produktivste Form identifiziert, bei der äußere Einflüsse – das Läuten eines Telefons, Kundenanfragen, Unterbrechungen durch Kollegen – möglichst eliminiert werden. Durch dauernde Unterbrechungen und Ablenkungen sinkt die Produktivität. Wird man aus konzentrierten Tätigkeiten herausgerissen, braucht man bis zu 29 Minuten, um sich wieder neu auf die Arbeit einzustellen.
Keine Kompromisse
Potenzielle Belastungsfaktoren zu beachten, würde sich auch gerade für KMU auszahlen. Fallen Mitarbeiter aufgrund psychischer Arbeitsbelastungen wiederholt aus, kann das ein kleiner Betrieb deutlich schwerer verkraften. Die Zahl der Krankenstandstage aufgrund psychischer Erkrankungen hat sich laut WIFO-Fehlzeitenreport 2014 in den letzten 20 Jahren auf durchschnittlich 31,9 Tage fast verdreifacht. Damit liegen psychische Erkrankungen bei den Ursachen für Krankenstandtage bereits vor den Arbeitsunfällen. Die gesamtwirtschaftlichen Kosten, die Krankenstände aufgrund psychischer Belastungen verursachen, belaufen sich pro Jahr auf rund 3,3 Milliarden Euro. Wird aber evaluiert und gegengesteuert, wirkt sich das unmittelbar positiv auf die Produktivität, Motivation und Zufriedenheit der Mitarbeiter aus, wie auch das jährliche Strukturwandel-Barometer zeigt, das vom Ifes-Institut im Auftrag der Arbeiterkammer erhoben wird. Demnach hat erst jedes fünfte Unternehmen die Evaluierung psychischer Belastungen zur Gänze durchgeführt. »Diese Anzahl muss rasch nach oben geschraubt werden«, fordert AK-Präsident Rudolf Kaske. »Bei der Gesundheit von Menschen am Arbeitsplatz darf es keine Kompromisse geben.«
Beispiele
Herstellung von Gummi- und Kunststoffwaren
Belastung: Stress bei der Qualitätsprüfung
Maßnahme: Ergänzung der schriftlichen Qualitätsanforderungen durch Bilder (gute Qualität, gerade noch akzeptable und inakzeptable Qualität)
Unternehmen im Maschinen- und Anlagenbau
Belastung: ständige Unterbrechungen
Maßnahmen: Festlegen von telefonfreien Zeiten (7–8 Uhr), Nutzung zweier leerstehender Büros für hochkonzentrative Tätigkeiten (probeweise für vier Monate)
Öffentliche Verwaltung
Belastung: emotional belastende Situation
Maßnahmen: Erweiterung der Dienstbesprechung um Zeit für Inter- und/ oder Supervision; Ermöglichen von Einzel-Supervision (Kostenübernahme durch Arbeitgeber)
Reparatur von Maschinen und Ausrüstungen
Belastung: Führungsaufgaben werden nicht wahrgenommen
Maßnahmen: Themenschwerpunkt im Führungskreis: Aufgabengebiete von Führungskräften; verpflichtende Weiterbildung für Führungskräfte zum Thema Konfliktmanagement; Einführung von »Kollegialer Beratung
Herstellung von Elektromotoren und Generatoren
Belastung: externe BesucherInnen
Maßnahme: tägliche Morgenbesprechung im Ausmaß von rund zehn Minuten; Inhalt: tagesaktuelle Aufgaben
Installation von Maschinen
Belastung: mangelnde Information
Maßnahmen: umfassende Information der MitarbeiterInnen über den gesamten Umbau (Infoscreens, Betriebsratszeitung, Plakate); Information der zur Umsiedlung ausgewählten Abteilungen ein Monat vor dem Termin
Quelle: Andrea Blattner: Maßnahmenbeispiele zur Arbeitsplatzevaluierung psychischer Belastungen