An Werktagen trug Thomas Steiner Briefe aus, am Wochenende lief auf dem Fußballplatz alles nach seiner Pfeife. Obwohl seine Entscheidungen nicht immer unumstritten waren, gilt er noch heute als einer der besten Schiedsrichter des Landes. Warum es wichtig ist, Spielern und Mitarbeitern Grenzen zu setzen und Botschaften klar zu kommunizieren, erklärt er im Report(+)PLUS-Interview.
Von Angela Heissenberger
(+) Plus: Schiedsrichter ist ein sehr undankbarer Job, man kann es kaum jemandem recht machen. Warum haben Sie sich gerade diese Rolle ausgesucht?
Thomas Steiner: Ich musste das Fußballspielen wegen muskulärer Probleme bereits mit 27 Jahren aufgeben. Trainer zu werden hat mich aber nicht interessiert. Als Spieler hatte ich immer Schwierigkeiten mit den Schiedsrichtern – das wollte ich besser machen. Innerhalb kürzester Zeit habe ich dann festgestellt: Es ist sehr schwierig, es besser zu machen. Obwohl ich ein erfahrener Fußballer war, musste ich erst Routine bekommen. Schiedsrichter oder Fußballspieler, das sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Man muss 22 Akteure führen, dazu kommt das Umfeld von Trainern, Betreuern und Zuschauern, und alle versuchen, auf das Geschehen Einfluss zu nehmen.
(+) Plus: Als ehemaliger Spieler kennen Sie sämtliche Tricks. Haben Sie mehr Verständnis für beide Seiten?
Steiner: Das war anfangs meine große Schwäche. In der Bundesliga warfen mir die Verantwortlichen in der Schiedsrichter-Kommission vor, zu nett zu den Spielern zu sein. Ich bekam deshalb immer nur durchschnittliche oder schlechte Bewertungen. In der Öffentlichkeit war ich beliebt, aber intern hieß es: Der pfeift so, wie es die Spieler wollen. In den ersten zwei, drei Jahren musste ich das abstellen und lernen, mich konsequent durchzusetzen.
(+) Plus: Sie leiteten mehr als 200 nationale und internationale Spiele. Ist Ihnen eines besonders in Erinnerung geblieben?
Steiner: Insgesamt war ich 35 Mal im Ausland eingesetzt. Ich hatte viele schöne Reisen, nach England, Moskau, Holland, Italien – aber auch an Orte, wo man normalerweise nicht unbedingt hinfährt, wie Moldawien oder Rumänien. Damals war ich noch Briefzusteller bei der Post und habe dafür großteils meinen Urlaub aufgebraucht. Leider muss man mit 45 Jahren die Karriere beenden. Ich hätte gerne noch eine Weile weitergemacht.
(+) Plus: Welche Fähigkeiten sollte ein guter Schiedsrichter mitbringen?
Steiner: Kommunikatives Auftreten, Durchsetzungsvermögen und Selbstvertrauen sowie geistige und körperliche Fitness. Wichtig ist auch das Know-how. Wenn man selbst nie Fußball gespielt hat, ist es sehr schwierig, ein guter Schiedsrichter zu werden. Die meisten haben zumindest in der Jugend irgendwo gekickt. Es gibt auch Ausnahmen: Fritz Stuchlik hat nie Fußball gespielt, war aber ein hervorragender Schiedsrichter.
(+) Plus: Warum ist Kommunikation so wichtig? Darf sich ein Schiedsrichter überhaupt auf Diskussionen einlassen?
Steiner: Es kommt natürlich vor, dass ein Spieler reklamiert oder fragt – das letzte Wort muss aber der Schiedsrichter haben. Es kann nicht sein, dass einer keppelt und keppelt und es gibt keine Sanktion. Ich wurde manchmal gefragt, warum der Steffen Hofmann dauernd mit mir redet. Er war einer meiner Lieblingsspieler, wir lagen bei vielem auf einer Wellenlänge und haben uns in bestem Einvernehmen über den Verlauf des Spieles ausgetauscht. Die Außenwirkung war aber: Der Hofmann kritisiert dauernd.
(+) Plus: Bei der letzten Weltmeisterschaft stand die schlechte Leistung der Schiedsrichter im Mittelpunkt. Sollten nicht gerade für ein Großereignis die besten Leute einberufen werden?
Steiner: Sollte man meinen, aber die Politik ist leider eine andere. Auch die FidschiInseln wollen einmal einen Schiedsrichter dabei haben, und deshalb stehen manchmal Leute auf dem Platz, die dort nichts verloren haben. Wenn die Schiedsrichter und Assistenten überfordert sind, kommt es zu solchen Fehlleistungen. Bei der EM 2016 hat wieder Pierluigi Collina von der UEFA das Sagen. Dann sind die besten europäischen Schiedsrichter am Zug, die alle Champions-League-Erfahrung haben und Herausforderungen gewohnt sind. Collina geht immer schon vor den Turnieren mit seiner Crew zu den Mannschaften und stellt die Richtlinien vor. Es wird Fehler geben, keine Frage, aber die Anzahl der Fehler wird weit unter jener der WM liegen. Den fehlerlosen Schiedsrichter gibt es nicht.
(+) Plus: Würden Sie einen Videobeweis befürworten?
Steiner: Zu meiner Zeit gab es bei den Wiener Derbys schon zwölf Kameras, in einem WM-Spiel haben wir heute 25 bis 30. Jede Szene kann man aus vier oder fünf verschiedenen Blickwinkeln sehen, trotzdem kommt es oft zu mehreren Meinungen. Der Schiedsrichter hat am Feld genau eine Kamera – nämlich seine Augen. Auch bei der Eishockey-WM im Mai gab es im Match Österreich gegen Kanada ein umstrittenes Tor. Die Schiedsrichter entschieden nach dem Video und trotzdem blieben die Diskussionen. Das wird auch mit Videobeweis nicht aufhören.
(+) Plus: Sie haben 2001 bei einem Spiel zwischen Rapid und GAK eine Entscheidung revidiert und ein Tor von Rapid, das nach einem täuschenden Pfiff aus dem Publikum zustande kam, aberkannt. Wie ging es Ihnen dabei? Sie hatten vermutlich das ganze Hanappi-Stadion gegen sich.
Steiner: Mir ging es sehr schlecht. Die ganze Aktion war insgesamt ein bisschen ungeschickt, regeltechnisch aber in Ordnung. Den Pfiff hat man deshalb so deutlich gehört, weil das Hanappi-Stadion damals fast leer war. Das kann man sich heute gar nicht vorstellen, da waren nur 2.500 Zuschauer. Ich war eigentlich mit den Gedanken schon in der Halbzeitpause und nicht mehr so konzentriert. In der Pause habe ich in Absprache mit dem Regel-Referenten der Bundesliga die Entscheidung getroffen. Das war natürlich keine angenehme Situation, auch Wochen danach nicht.
(+) Plus: Stimmt es, dass Sie in der folgenden Saison nur in der zweiten Liga eingesetzt wurden?
Steiner: Es war für mich so belastend, dass noch ein halbes Jahr später, wenn ich über diese Situation nachgedacht habe, mein Puls stark angestiegen ist. Es war sicher richtig, mich ein bisschen aus der Schusslinie zu nehmen. Das hat mir sehr gut getan, ich bin gestärkt wieder zurückgekommen. Ich durfte in den folgenden Jahren das Cupfinale und das Supercup-Finale leiten und dreimal das Wiener Derby.
(+) Plus: Darf man es sich in dieser Position erlauben, Fehler einzugestehen?
Steiner: Wenn man sich in einem Spiel zehnmal wegen eines Fehlers entschuldigt, wirkt das natürlich nicht sehr souverän. Aber einmal zuzugeben »Das habe ich falsch gesehen«, ist sicher besser, als jeden verbalen Kontakt abzublocken. Mir sind genauso viele Fehler passiert wie anderen, aber ich habe mit den Spielern auf einer vernünftigen Ebene kommuniziert. Nicht immer freundlich, oft mit deutlichen Worten. Spieler brauchen Grenzen – und die muss man ihnen immer wieder aufzeigen. Unsere Bundesliga ist sehr klein, man pfeift jeden Verein mehrere Male pro Saison und hat immer wieder dieselben Gesichter vor sich. Sie testen dich jedes Mal von Neuem aus: Die ersten 15, 20 Minuten wird probiert, wie ist der Steiner heute drauf?
(+) Plus: Sie sind im »Brotberuf« bei der Post inzwischen in einer Führungsfunktion tätig. Sehen Sie Parallelen zu Ihrer Schiedsrichtertätigkeit?
Steiner: Meine Erfahrungen kann ich im Beruf sehr gut umsetzen. Hier wie dort geht es darum, Anweisungen klar zu kommunizieren. Die Botschaft muss bei den Betroffenen ankommen. Rasches Entscheiden ist gefragt, oft auch aus dem Bauch heraus. Man muss immer konzentriert sein. »Erwarte das Unerwartete« lautet die Devise der Schiedsrichter, dann kann einen wenig überraschen. Ich muss auch meinen Mitarbeitern immer wieder Grenzen aufzeigen. Spaß ist okay, aber man darf es nicht schleifen lassen.
(+) Plus: Derzeit fehlen in Österreich rund 1000 Schiedsrichter. Ist es wirklich die »schönste Nebentätigkeit der Welt«, wie der ÖFB wirbt?
Steiner: Ob es die schönste ist, weiß ich nicht. Als Schiedsrichter unterwegs zu sein, ist auf jeden Fall sehr charakter- und persönlichkeitsbildend. Aber es muss das private und berufliche Umfeld passen, und Talent braucht man halt auch.
(+) Plus: Gibt es in Österreich einen Schiedsrichter, der geeignet wäre, auch ein internationales Turnier zu pfeifen?
Steiner: Wir haben derzeit zwei große Talente – Harald Lechner und Oliver Drachta –, die bereits bei Gruppenspielen in der Euro-League im Einsatz sind. Für ein so kleines Land wie Österreich ist es schwierig, international an die Spitze zu kommen. Es ist ein Unterschied, ob ich regelmäßig in Liverpool vor 48.000 Zuschauern pfeife oder in Grödig vor 1.500. Aber ich denke, dass unsere Burschen demnächst eine Chance bekommen werden. Was mich auch sehr zuversichtlich stimmt, ist unser Nationalteam: Mit den Erfolgen steigt die Reputation des österreichischen Fußballs und der Schiedsrichter. Das geht Hand in Hand.