Sonntag, Dezember 22, 2024

Am 25. Mai sind rund 380 Millionen Bürgerinnen und Bürger Europas aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. 751 Sitze werden neu vergeben, 18 davon aus Österreich. Report(+)PLUS hat die SpitzenkandidatInnen zum Parallelinterview über Prioritäten im EU-Parlament, den Zielkonflikt Klimaschutz und Re-Industrialisierung, ideologische Positionierungen und die wachsende EU-Skepsis gebeten.

1. Welche Themen soll die EU/das europäische Parlament in Zukunft vorrangig behandeln?

2. Immer wieder ist von einer Re-Industrialisierung Europas die Rede. Gleichzeitig will die EU den CO2-Ausstoß bis 2030 um 40 Prozent reduzieren. Wie lassen sich diese beiden Ziele vereinen bzw. wo sollte Ihrer Meinung nach der Fokus liegen?

3. Was kann das EU-Parlament für die österreichische Wirtschaft/österreichische Unternehmen tun?

4. Die großen Wahlkampfthemen in Europa heißen »Wettbewerbsfähigkeit« bzw. »Soziale Gerechtigkeit«. Wie positionieren Sie sich in diesem Streit der Ideologien?

5. Laut einer aktuellen Eurobarometer-Umfrage zeigen sich 54 Prozent der Österreicher unzufrieden mit der Entwicklung der Demokratie in der EU. 57 Prozent sehen die Interessen des Landes in der EU nicht gut berücksichtigt und schon mehr als 35 Prozent meinen, die EU bringe Österreich mehr Nachteile als Vorteile. Was antworten Sie EU-Skeptikern?

ÖVP, Othmar Karas:
1. Ganz entscheidend wird der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit sein. Das beste Instrument dagegen ist ein wettbewerbsfähiges Europa, das möglichst viele gute Arbeitsplätze schafft. Von zentraler Bedeutung ist es auch, unsere Abhängigkeit von amerikanischer IT-Infrastruktur, von russischem Gas und vom Öl der OPEC-Länder zu reduzieren. In diesen Bereichen brauchen wir europäische Forschungs-, Innovations- und Investitionsinitiativen. Zudem darf kein Steuergeld mehr zur Rettung von maroden Banken verwendet werden.

2. Ich setze mich für das Erreichen der EU-Klimaziele ein, fordere aber zusätzlich auch ein verbindliches »Industrieziel«. Klimapolitik, die auf dem Industrieauge blind ist, hilft keinem was. Wir sollten die Industrie ausbauen und stärker mit den Energie- und Klimazielen verknüpfen. Deshalb fordere ich als viertes Ziel eine verpflichtende Industriequote von 20 Prozent in der ganzen EU.

3. Je geringer die Hürden im EU-Binnenmarkt sind, desto besser für Österreich. Das EU-Parlament macht massiv Druck für die Verwirklichung des Binnenmarktes und des Abbaus von Bürokratie. Wir haben durch Binnenmarktgesetze den Verwaltungsaufwand für EU-Unternehmen seit 2007 um 25 Prozent reduziert. Wir unterstützen sie erfolgreich mit vereinfachten Kreditbedingungen, mit mehr als 2 Mrd. Euro zur Finanzierung von Investitionen, den besseren Zugang zu EU-Forschungsprogrammen, durch Schutz vor Zahlungsverzug und durch besseren Zugang zu internationalen Märkten.

4. Man sollte diese beiden Themen nicht gegeneinander ausspielen, denn soziale Gerechtigkeit kann nur in einem wettbewerbsfähigen Europa erreicht werden. Wettbewerbsfähige Unternehmen ermöglichen Wachstum, schaffen und sichern Arbeitsplätze und ermöglichen Investitionen in die Zukunft. Eine zentralistische europäische Sozialpolitik, die über Schulden finanziert wird, kann Europa nicht nach vorne bringen. Denn Schulden sind die wahren Jobkiller.

5. Zwei Drittel unseres österreichischen Wohlstands sind von Exporten abhängig – und 80 Prozent der österreichischen Exporte gehen nach Europa. Es gibt nichts Verantwortungsloseres als die Forderung nach einem Austritt aus EU und Euro. Es wäre ein Wahnsinn, wenn wir wieder Zölle zahlen müssten, das würde uns jährlich € 1,7 Mrd. Euro kosten. Unsere Stimme in Europa wäre bedeutungslos. Wer für Österreich ist, kann nicht für einen EU-Austritt sein.

SPÖ, Eugen Freund:
1. Wichtig ist, dass das EU-Parlament sich künftig um die wirklich wesentlichen Themen kümmert, anstatt sich in Ölkännchen- und Toilettenspülungsverordnungen zu verzetteln. Das heißt: Investitionsprogramme gegen die Arbeitslosigkeit, eine Jobgarantie für die Jungen, Kampf gegen Steuerbetrug und die Energiewende.

2. In den nächsten Jahren wird es vor allem darum gehen, ein weitreichendes Nachfolgeabkommen für das Kyoto-Protokoll zu erreichen. Der Kampf gegen die Umweltverschmutzung und für die Energiewende müssen weiterhin Hauptziele der EU sein. Das steht meines Erachtens nicht im Widerspruch zu Initiativen für mehr Beschäftigung. Ganz im Gegenteil: In der Energiewende und im Klimaschutz liegt viel Potenzial für neue, »grüne« Jobs.

3. Für Wachstum und Beschäftigung ist es entscheidend, dass die europäischen BürgerInnen die bestmögliche Ausbildung erhalten. Gleichzeitig sind gut ausgebildete ArbeitnehmerInnen die Voraussetzung für Europas künftigen Wohlstand. Dafür braucht es ausreichend Mittel. Österreichische Unternehmen profitieren zudem jetzt schon stark vom europäischen Binnenmarkt. Eine gezielte Stärkung strukturschwacher Regionen würde auch das heimische Wachstum weiter ankurbeln.

4. Unser Credo lautet: Wettbewerbsfähigkeit durch soziale Gerechtigkeit. Das ist kein Gegensatzpaar, sondern muss sich ergänzen. Um die hohe Produktivität in Österreich und in Europa langfristig zu erhalten, wollen und dürfen wir nicht in einen Wettbewerb um die niedrigsten Löhne und niedrigsten Sozial- und Umweltstandards eintreten. Vielmehr wollen wir auch in Zukunft mit Qualität, Sicherheit und Innovation punkten.

5. Österreich profitiert seit dem EU-Beitritt stark von seiner Mitgliedschaft: Seit dem EU-Beitritt wurden 14.000 neue Jobs jährlich in Österreich geschaffen. Jeder Haushalt hat seit dem EU-Beitritt im Schnitt 7.000 Euro mehr als davor zur Verfügung. Den KonsumentInnen hat die EU auch viel gebracht: So ist zum Beispiel das Telefonieren im EU-Ausland erheblich billiger geworden. Aber ich weiß, dass es sehr viele Menschen gibt, die Bedenken haben, was gewisse Entwicklungen betrifft. Das muss man ernst nehmen. Ich selbst habe auch das Gefühl, dass vieles von dem, was in Brüssel passiert ist, für die Leute zu schnell gegangen ist. Hier will ich versuchen, meine Erfahrung als »Erklärer« komplexer Probleme einbringen.

FPÖ, Harald Vilimsky:
1. Jene Themen, in denen Kooperation der Mitgliedstaaten sinnvoll ist. Ich denke etwa an Wissenschaft und Forschung.

2. Die maßgebliche Beeinflussung des Klimas durch den Menschen ist keineswegs so sicher, wie es die Propheten des Klimawandels glauben machen. Dennoch muss Industrie mit Umweltschutz Hand in Hand gehen, wie dies Österreich auch vorbildhaft zeigt. Dass unsere Betriebe dafür bestraft werden und sinnlose CO2-Zertifikate kaufen müssen, ist ein Hohn. Hier liegt der Ball allerdings bei der österreichischen Regierung. Die FPÖ fordert den Ausstieg aus Kyoto, um die Wettbewerbsbedingungen für die heimische Industrie zu verbessern.

3. Sich stark machen gegen den Regulierungswahn, von dem zwar einzelne Unternehmen (vielleicht gezielt?) stark profitieren, unter dem die Wirtschaft als ganze aber leidet. Generell gilt: Wirtschaftspolitik ist Sache der Nationalstaaten. In Österreich müssten etwa endlich die exorbitanten Lohnnebenkosten gesenkt werden.

4. Mit dem Schlagwort »Wettbewerbsfähigkeit« ist in Wahrheit ein Freifahrtsschein für große multinationale Konzerne gemeint, wie sich aktuell auch an den Geheimverhandlungen zum Freihandelsabkommen TTIP zeigt. Die Menschen bleiben dabei auf der Strecke, verlieren ihre Jobs oder werden in immer unwürdigere Arbeitsverhältnisse gezwungen. Der Fokus muss also ganz klar auf dem Wohl der Bürger, nicht der Banken und Konzerne liegen.

5. Dass Sie mit Ihren Bedenken völlig Recht haben! Wenn sich die EU weiter dem Zentralisierungswahn hingibt, Milliardenbeträge an Steuergeld zur angeblichen Euro-Rettung quer über den Kontinent verschiebt und in den Mitgliedstaaten sinnlose Gesetze durchdrückt, wird sich dieses Meinungsbild noch verstärken. Daher sagen wir: Die EU muss sich rückentwickeln zu einer Konföderation souveräner Staaten. Kompetenzen gehören wieder in die einzelnen Mitgliedsländer. Die Verträge von Maastricht und Lissabon waren Schritte in eine falsche, von den Bürgern nicht gewünschte Entwicklung, und müssen daher rückgängig gemacht werden.

Die Grünen, Ulrike Lunacek:
1. Klimaschutz, Energiepolitik, gesunde Ernährung, Maßnahmen zur Bewältigung der Jugendarbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise, Sicherung der Grundrechte wie Datenschutz, Flüchtlings- und Migrationspolitik und die Erneuerung der europäischen Demokratie.

2. Es ist eine Mär, dass die europäische Klimapolitik die Industrie zur Abwanderung zwinge. Für die allermeisten Industrieunternehmen sind die Energiekostenanteile gering. Die anderen sind (und bleiben) durch großzügige Ausnahmeregelungen vor Abwanderung geschützt. Durch den Emissionshandel hat die Stahlindustrie in Europa sogar Milliardenprofite gemacht. Von De-Industrialisierung wegen Klimapolitik keine Spur!

3. Grundsätzlich ist das Europäische Parlament den Zielen der EU-Verträge unterworfen, die im Wirtschaftsbereich »eine gute und nachhaltige Entwicklung aller Mitgliedstaaten« vorsetzen. Konkret sehen wir im EP die Forcierung der Ökowirtschaft und die Schaffung zusätzlicher grüner Arbeitsplätze als wesentlichen Bestandteil eines zukunftsorientierten und nachhaltigen Wirtschaftssystems. Dies stärkt auch die heimische Wirtschaft, wo die Ökowirtschaft seit Jahren zu den nach Umsatz und Beschäftigung am stärksten wachsenden Branchen zählt.

4. Wettbewerbsfähigkeit um jeden Preis lehnen wir ab, hat sie doch als Krisenpolitik zu Rekordarbeitslosigkeit, insbesondere von Jugendlichen, und rasant steigender Armut geführt. Wir kämpfen für eine europäische Sozialunion mit europaweit hohen Standards. Die großen sozialen Verwerfungen – insbesondere zwischen den Mitgliedstaaten – müssen im Sinne sozialer Gerechtigkeit durch Solidaritätsmechanismen ausgeglichen werden.

5. Wir setzen uns dafür ein, dass Österreich bei der Weiterentwicklung der EU in Richtung sozial, ökologisch, demokratisch und wirtschaftlich nachhaltig eine Vorreiterrolle übernimmt. Ein EU-Austritt würde Österreich und seinen BürgerInnen schwer schaden. Die Möglichkeiten der heimischen Wirtschaft am europäischen Markt wären beschränkt. Folgen davon wären steigende Arbeitslosigkeit und Inflation.

BZÖ, Angelika Werthmann:
1. Wesentlich für das europäische Parlament – aber auch für die Repräsentanten, Vertreter und Institutionen der EU im Allgemeinen – wird die Beschäftigung mit den eigentlich zentralen Fragen der Gemeinschaftspolitik sein müssen, also etwa der Außen- über die Sicherheitspolitik, aber auch Themenbereiche wie Klima- und Umweltpolitik. Grundsätzlich wird es darum gehen müssen, die tatsächlich gemeinsamen »europäischen« Problem- und Interessenslagen der Mitgliedsstaaten zu definieren und auf EU-Ebene zu forcieren.

2. Der Fokus wird auf einer Forcierung von Bildung, Aus- und Weiterbildung sowie auf Forschung und Entwicklung liegen müssen, wenn die führenden Industriestaaten Europas nicht den Anschluss (insbesondere in den Spitzen- und Zukunftstechnologien) verlieren und auf den globalen Märkten konkurrenz- und wettbewerbsfähig bleiben wollen. In diesem Zusammenhang nur von einer Re-Industrialisierung zu sprechen, greift jedenfalls zu kurz.

3. Es kann (könnte) dazu beitragen, dafür zu arbeiten, damit jene Rahmenbedingungen geschaffen werden können, die Unternehmen und Wirtschaft brauchen, um konkurrenz- und wettbewerbsfähig zu bleiben. Dabei geht es nicht allein um innereuropäische Unterschiede, sondern vor allem um die Stellung Europas in der Weltwirtschaft.

4. as BZÖ sieht diese Frage nicht als Streit der Ideologien, denn Wettbewerbsfähigkeit und soziale Gerechtigkeit sind nicht notwendigerweise ein sachlich gerechtfertigter Gegensatz. Wenn hier ein Gegensatz besteht, ist er zumeist nur das Resultat falsche Politik – insofern ist ein politisches Umdenken im Sinne einer pragmatischen, vernunftorientierten Sach- und Reformpolitik anzustreben.

5. Die Eurobarometer-Umfrage bestätigt die in vielerlei Hinsicht gerechtfertigte und berechtigte Kritik an der EU und die Skepsis gegenüber der EU. Die EU, ihre Repräsentanten, Vertreter und Institutionen sollten endlich erkennen, dass diese Kritik und Skepsis einen umfassenden und nachhaltigen Handlungsbedarf notwendig macht, der längst schon alternativlos ist. Geht die EU ihren bisherigen Weg unverändert weiter, droht sie alle erreichten Erfolge der europäischen Integration und Einigung massiv zu gefährden.

NEOS, Angelika Mlinar:
1. Europa muss an die nächsten Generationen denken und einen Bildungsschwerpunkt setzen. So kann das heimische Konzept der dualen Ausbildung nach Europa getragen werden. Weiters wollen wir einen Verfassungskonvent, der unter Beteiligung aller BürgerInnen einen Vorschlag erarbeitet. Und zuletzt darf Europa nicht wegsehen, wenn tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken. Wir müssen für eine gemeinsame, solidarische und menschenfreundliche Asyl- und Migrationspolitik kämpfen.

2. Eine Energiewende muss zuerst in den Köpfen stattfinden und erfordert mehr als die  Reparatur des Emissionshandels. Europa hat es in der Hand, zu zeigen, wie Gebäude zu einem Teil der Infrastruktur werden und wie sich erneuerbare Energien in einem innovativen Energiesystem entfalten können. Das erfordert einen Wandel der bisherigen Strukturen. In unserer Vision zeigt sich, dass die Vernetzung europäischer Regionen ein nachhaltiges »Wirtschaftswunder« bewirkt.

3. Aufgabe des europäischen Binnenmarktes ist es, Innovation zu fördern und die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Das gelingt, wenn wirtschaftliche Rahmenbedingungen an neue Gegebenheiten angepasst werden, wenn bürokratische Hürden beseitigt und (Aus-)Bildung verbessert werden. Globalisierung muss geformt, nicht gefürchtet werden und Europa – und damit Österreich – zu einem Kontinent der GründerInnen werden. Hier setzen wir auf einen Jungunternehmerfonds.

4. Wettbewerbsfähigkeit und soziale Gerechtigkeit gehen Hand in Hand. Die Wirtschaft muss für den Menschen da sein und nicht umgekehrt. Eine ökologische und soziale Marktwirtschaft sorgt für nachhaltigen Wohlstand. Wohlstand definiert sich über ausreichend vorhandene Beschäftigung, menschenwürdige Lebensbedingungen und Chancengerechtigkeit.

5. NEOS lieben Europa – aber wir müssen an der Beziehung arbeiten. Ziel ist es, dass Europa in den Wohnzimmern der Menschen ankommt. Der Trend zur Renationalisierung hätte verheerende Folgen: Rückkehr zu Wirtschaftsprotektionismus und Rücknahme der Niederlassungsfreiheit. Wir wollen ein zukunftsorientiertes, demokratisches Gesellschafts- und Wirtschaftssystem auf Basis eines geeinten Europas. Europa muss eine selbstbewusste Rolle in einer globalisierten Welt spielen.

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