Das Projekt nimmt langsam Gestalt an: Am Wiener Hauptbahnhof halten seit Dezember die ersten Züge. Südlich des Areals werden im Sommer die ersten Wohnungen bezogen. Bis auf der Großbaustelle Ruhe einkehrt, dauert es aber noch bis 2019. Report(+)PLUS nahm einen Lokalaugenschein vor.
Kräne, Erdhaufen, Rohre, Betonskelette – wer am Wiener Südtirolerplatz aus der U-Bahn-Passage an der Oberfläche auftaucht, findet sich inmitten der größten Baustelle der Stadt wieder. Auf einer 109 Hektar umfassenden Fläche, die in etwa der Größe des 8. Bezirks entspricht, entsteht bis 2019 ein eigener Stadtteil. Von der Aussichtsplattform des bahnorama-Turms in der Favoritenstraße sind die Fortschritte der einzelne Bauobjekte gut zu überblicken.
Das imposante Rautendach des neuen Hauptbahnhofs ist schon jetzt ein zentraler Blickfang. Mit einem Hitzeschild und einer Photovoltaikanlage wiegt die aufwendige Stahlkonstruktion 5.700 Tonnen. Auf zwei Bahnsteigen herrscht darunter seit vergangenem Dezember regulärer Betrieb. Bis Ende 2014 soll die Fertigstellung erfolgen, 2015 werden alle zwölf Gleise auch durchgehend verbunden. »Wien ist damit eine der ersten Städte, die aus einem Kopfbahnhof einen Durchgangsbahnhof macht«, erklärt Heinz Gschnitzer, Leiter der ÖBB-Infrastruktur. Drei transeuropäische Bahnrouten durchschneiden künftig diesen Verkehrsknotenpunkt. Im Vollbetrieb werden bis zu 1.000 Züge und 150.000 Personen pro Tag passieren – das entspricht etwa dem dreifachen Aufkommen des Flughafens Wien-Schwechat. Die viel kritisierte Entfernung zur U-Bahn entkräftet Gschnitzer: »Die Wiener gehen im internationalen Vergleich sehr schnell, wir haben das gemessen.« Die 335 Meter zwischen Bahnhof und U1 wären demnach in durchschnittlich 5,5 Gehminuten zu schaffen.
Erst ein Sechstel der Bahnhofshalle ist bereits geöffnet. Unter- und oberirdisch wird inzwischen emsig weitergearbeitet. Ein 20.000 Quadratmeter großes Shoppingcenter erstreckt sich über zwei Etagen. 115 Geschäfte sind geplant. Für 65 % der Flächen gibt es bereits Mieter, die Eröffnung soll im Herbst 2014 erfolgen. Bei der Ausstattung des Bahnhofskomplexes wurde besonderer Wert auf »hochwertige heimische Materialien« gelegt, so Andreas Kallischek, Gesamtleiter des Immobilienprojekts. Robuste Natursteinplatten schmücken bereits die Stationen. Die Sichtbetonwände wurden mit einer Anti-Graffiti-Beschichtung versehen. Geothermieleitungen unter den Bodenplatten sorgen für optimale Kühlung bzw. Wärmenutzung entsprechend der Jahreszeiten. Durch spezielle Absorberelemente wird der Zuglärm schon unmittelbar an der Bahnsteigkante gedämpft, um die Belastung für die Anrainer möglichst gering zu halten.
>> Eine Stadt in der Stadt <<
Mit Baulärm müssen die Bewohner der umliegenden Häuser ohnehin noch länger leben. Das mit 88 Metern höchste Gebäude, die ÖBB-Zentrale, ragt schon zur Hälfte als Rohbau in die Höhe. Insgesamt 1.700 ÖBB-Mitarbeiter der Holding und aus sechs Tochtergesellschaften, u.a. Railcargo und Postbus, werden dort Platz finden. Gegenüber entsteht auf 25.000 Quadratmetern Grundfläche der Erste Campus. In dem wie ein »Gürtel« geschwungenen Gebäudekomplex werden alle Standorte der Erste Bank, mit Ausnahme der Zentrale am Graben und des Rechenzentrums am Geiselberg, zusammengeführt. Insgesamt 4.500 Mitarbeiter übersiedeln ab Anfang 2016 hierher. Geplant sind dennoch nur 630 Autostellplätze und 1.150 Fahrradplätze. »Durch die optimale Anbindung wird es zu einer Verschiebung auf die öffentlichen Verkehrsmittel kommen«, meint Projektleiter Christian Maeder. Wie beim Bahnhof ist auch beim Campus nachhaltige Bauweise oberste Prämisse. Das neue Erste-Hauptquartier besticht aber auch durch eine außergewöhnliche Bauweise: Der sehr luftig wirkende Betonkern wird komplett mit einer Schale aus Holz verkleidet, die wiederum eine Glasfassade nach außen abschließt. Auf Deckenhöhe des Erdgeschoßes entsteht ein Atrium mit Grünflächen, das öffentlich zugänglich sein wird.
Weiter südlich erstreckt sich zwischen Sonnwendgasse, Gudrunstraße und dem Bahnkörper das neue Wohnviertel mit 5.500 Wohnungen samt Kindergarten und Bildungscampus. Die ersten Mieter ziehen noch heuer ein. Bis 2019 soll alles fertig sein. Die Gesamtkosten – Bahnhof und Stadtentwicklungsgebiet – belaufen sich auf rund vier Milliarden Euro. Eine Milliarde davon entfällt auf den Bahnhofsbau. 10 % kommen von der EU, die Stadt Wien investiert rund 500 Millionen Euro.